Nebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1892. 375
kerung zurückgegangen, während die 34, die eine leichte Vermehrung
erfahren haben, vornehmlich Grenzgebiete und von gemischter Be-
völkerung bewohnt sind.
Das Königreich der Niederlande hat unter einem liberalen Nieder-
Ministerium größere legislatorische Reformen in Angriff genommen. lande.
Eine Finanzreform, ausgearbeitet von dem Finanzminister Pierson,
hat die Zustimmung der Volksvertretung bereits gefunden. Die
Verhandlungen gehen noch fort über eine Aenderung des bisherigen
Wahlrechts, die sich dem allgemeinen Stimmrecht ziemlich nähert.
Der Minister Taak van Poortfliet vertritt sie. Der Kriegsminister
Seyffardt sucht die Armee durch die Umgestaltung der alten Schut-
terij zu einer Art schweizerischer Miliz zu ergänzen, findet jedoch
in diesem Bestreben bei seinen liberalen Parteigenossen vielfachen
Widerspruch. In beiden Parteien, der ultramontanen wie der
liberalen bekämpfen sich mehr oder weniger versteckt zwei Richtungen,
eine mehr konservative, eine mehr demokratische; man will beob-
achten, daß die letztere mehr und mehr an Boden gewinnt.
Aeußerst lebhaft ist der Parteikampf in Belgien entbrannt. Belgien
Die aus der Revolution von 1830 hervorgegangene Verfassung hat
die Herrschaft ausschließlich den besitzenden Ständen vorbehalten.
Es ist eigentlich erstaunlich, daß hier in der unmittelbaren Nachbar-
schaft Frankreichs die Arbeitermassen sich das so lange haben ge-
fallen lassen. Der Bourgeois-Parlamentarismus in Belgien hat
nicht einmal die Vorsicht beobachtet, durch eine umsichtige soziale
Gesetzgebung die wirtschaftliche Lage des Arbeiterstandes möglichst
zu sichern und günstig zu stellen. Mit dem Jahre 1886 hat nun
die radikale Bewegung zunächst mit Massenstreiks und Gewalt-
thätigkeiten begonnen und sich endlich auf die politische Forderung
des allgemeinen Stimmrechts zugespitzt. Ende 1891 brachte der
Deputierte Janson den Antrag auf die Verfassungsänderung in
der Kammer ein und der Druck dieser Bewegung ist so stark, daß
die beiden herrschenden Parteien, die klerikale und die liberale, sich
zum Zugeständnis einer Verfassungsänderung verstanden haben.
Aber worin soll diese Reform bestehen? Soll Belgien wirklich mit
einem Sprung sich in das tiefe Meer des allgemeinen Stimmrechts
stürzen? Wird dieser künstlich konstruierte Staat die unruhige Ge-