Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

534 Das Denisqhe Reithh und seine einzelnen Glieder. (Januar 29.) 
29. Januar. Der Reichstag nimmt Gesetzentwürfe betr. 
die Verzollung und Läger von Getreide, Holz und Weinen, sowie 
die Ermächtigung für den Bundesrat, bis zum 1. Dezember 1892 
auch Nichtvertragsstaaten Zollvergünstigungen zu gewähren, an 
(Gesetz vom 30. Januar). 
29. Januar. (Abgeordnetenhaus: Volksschulgeset..) 
Nach einer Rede des Abg. Virchow spricht Ministerpräsident Graf 
v. Caprivi: 
Der Herr Vorredner hat im Eingange seiner Rede dieses Gesetz als 
ein politisches bezeichnett und wenn ich auch diese Bezeichnung nicht in 
ihrem ganzen Umfange annehme, so gibt sie mir doch Anlaß, von dem 
politischen Standpunkte, wie er der Königlichen Staatsregierung erscheint, 
gleichfalls auf dieses Gesetz einzugehen. 
Der Herr Abgeordnete hat des Längeren darüber geklagt, daß unser 
Staatswesen auf zwei Konfessionen gegründet sei. Gewiß, für einen Staats- 
mann, der an der Leitung dieses Staatswesens beteiligt ist, wäre es ungleich 
leichter und einfacher, wenn wir es nur mit einer Konfession zu thun hätten. 
Aber der Herr Abgeordnete hat das Gewicht der von ihm geäußerten Be- 
sorgnisse vor den Gefahren, welchen unser Gemeinwesen eben aus dem 
Grunde ausgesetzt ist, weil es sich auf zwei Konfessionen gründet, insofern 
selbst gemindert, als er sich im weiteren Verlauf seiner Darlegungen gegen 
den theokratischen Staat und die Priesterherrschaft wandte und diese als 
eine Hauptgefahr bezeichnete. Mir will scheinen: wenn ein Staat, in dem 
zwei christliche Konfessionen so stark vertreten sind, wie in dem unfsrigen, 
welcher einen paritätischen Charakter hat, wenn der einer Gefahr ausgesetzt 
ist, so ist es gerade die nicht, theokratisch zu werden, einer Priesterherrschaft 
unterworfen zu werden, schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil er 
immer mit zwei Priesterschaften zu thun hat. 
Der Herr Abgeordnete hat, im Wiederhall von dem Tone, den wir 
gestern gehört haben, als man sagte, alle Nationen sähen auf den Kampf 
der Geister, der hier entbrannt ist, uns einen Brief aus dem Auslande 
vorgelesen. Was die Aufmerksamkeit aller Nationen auf den Kampf an- 
geht, so will ich zugeben, daß über die Grenze nicht nur unseres engeren 
Vaterlandes, sondern auch Deutschlands hinaus eine gewisse Aufmerksamkeit 
diesem Kampfe folgt; aber ich würde mich scheuen, Urteile des Auslandes 
über die Verhandlungen, die wir hier führen, zu zitieren; denn ich würde 
die Besorgnis haben, daß es im Auslande niemanden gibt, der im Stande 
ist, diese Fragen zu beurteilen. 
Wenn man Urteile, wie wir sie hier gehört haben, hört, wenn man 
Urteile liest, wie man sie alle Tage in der Presse liest, also immerhin 
Urteile, hier von Männern, die berufsmäßig sich mit der Sache zu be- 
schäftigen haben, und in der Presse von Männern, die ein Metier daraus 
machen, sich mit der Sache zu beschäftigen, dann muß ich doch sagen, ist 
bei mir die Ueberzeugung immer stärker geworden, daß von tausend Menschen, 
die über dieses Gesetz reden, nicht einer es gelesen hat. Jedenfalls ist die 
Zahl derer, die den Gesetzentwurf außerhalb dieses Hauses studiert haben, 
eine minimale; es wären sonst Urteile, wie sie in der Presse vorkommen, 
gar nicht möglich. Es gehört zum Verständnis dieses Gesetzes Studium — 
es gehört dazu nicht bloß, daß man den Gesetzentwurf einmal durchliest, 
sondern, daß man ihn durcharbeitet, daß man ihn dann mit dem vor- 
jährigen Entwurf, mit dessen Motiven sorgfältig vergleicht, und endlich —
	        
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