NMas Ventsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 30.) 59
— hat von diesem allgemeinen Moralunterricht gar keine Kenntnis. Ich
glaube, der Herr Abgeordnete Virchow hat von dem Gesetz keine Kenntnis
gehabt. Im Gegenteil, er schreibt ausdrücklich den konfessionellen Unterricht
vor und konnte es ja auch gar nicht anders.
In der weiteren Debatte repliziert der Abg. Friedberg
(nat.-lib.) sehr scharf auf die Rede des Grafen Caprivi. Graf
Zedlitz antwortet ihm und beschwert sich über den Ton, der per-
sönlich gegen ihn angeschlagen sei.
30. Januar. Fortsetzung. Reichskanzler Ministerpräsident Graf
v. Caprivi:
Der Herr Abgeordnete Dr. Friedberg hat mir gestern den guten Rat
gegeben, ich möchte objektiver sein. Ich habe, soweit ich mich erinnere, seit
Jahren zum Grundsatz meines Lebens gemacht, die Sache vor die Person
zu stellen. Wenn ich aber dagegen gefehlt haben sollte, so nehme ich guten
Rat zu aller Zeit gern an. Ich hoffe aber, der Herr Abgeordn. Dr. Fried-
berg wird nicht glauben, daß ich gegen diesen Satz fehle, wenn ich meine,
die auserlesene Sammlung von Schlagworten, die wir eben gehört haben,
ist es nicht, was mich veranlaßt, das Wort zu nehmen, sondern die per-
sönlichen Beziehungen, in die der Herr Abgeordnete Knörcke sich zu mir und
der Regierung gestellt hat.
Er hat von mir gesagt, ich thue ihm Unrecht; er müsse den Angriff,
den ich gestern auf ihn und auf weite Kreise gemacht habe, zurückweisen;
er hat angedeutet, daß der Angriff besteht in den Worten: Theismus und
Atheismus. Ich will mir erlauben, Ihnen diese Worte vorzulesen. Ich
habe gesagt: „Ich glaube, es handelt sich hier in letzter Instanz nicht um
evangelisch und katholisch, sondern es handelt sich um Christentum und
Atheismus.“
Für die letzte Instanz halte ich weder die nationalliberale Partei,
noch die freisinnige Partei, sondern ich habe da meine Ueberzeugung aus-
drücken wollen, daß diese Frage sehr viel weiter geht, daß sie sehr viel
tiefere Wurzeln hat, und daß sie auf einem andern Boden, als auf dem der
Kämpfe, die wir jetzt hier führen, werde ausgetragen werden müssen.
Er hat dann weiter gesagt, er stehe auf dem Boden des Christen-
tums. Das freut mich.
Wie ich gestern schon gesagt habe, halte ich für das wesentlichste an
einem Menschen seine Stellung zu Gott. Weil ich aber weiß, wie schwer
diese Stellung zu beurteilen ist, selbst wenn man das Bekenntnis eines
Menschen kennt, so würde ich nie wagen, ohne einen Menschen länger zu
kennen, als den Herrn Abgeordneten Knörcke, den ich heute zum erstenmal
kennen zu lernen die Ehre gehabt habe, über dergleichen zu urteilen. Also
es ist mir weder eingefallen, noch fällt es mir heute ein, mit dem Herrn
Abgeorbneten Knörcke über seine Stellung zum Christentum streiten
zu wollen.
Wenn er aber weiter gesagt hat, daß er eine höhere Vorstellung da-
von habe, als ich, so glaube ich, daß es einen Maßstab für diese Dinge
nicht gibt; und ich ziehe es vor, mich in einen Disput hierüber mit ihm
nicht einzulassen.
Er hat geglaubt, weiter abwehren zu müssen — eine Auffassung,
die die Regierung habe, daß die Kirche ein instrumentum regn## sei.
weiß nicht, wo er diese Auffassung her hat, soweit er sie mit der Regierung
in Verbindung bringt. Wir sind der Meinung, daß Staat und Kirche zwei