Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Das Dentsche Reih und seine einzelnen Glieder. (März 26.) 77 
den Sitzungen zuzuziehenden Arbeitgeber und Arbeiter und die Vorladung 
der Auskunftspersonen erfolgen durch den Vorsitzenden. 
Der Reichstag wählt die Herren: Biehl (Zentr.), Dr. Hart- 
mann (kons.), Dr. Hirsch (deutschfr.), Hitze (Zentr.), Schippel (Soz.- 
Dem.) und Siegle (nat.-lib.). 
26. März. (Reichstag.) Der Reichskanzler Graf 
Caprivi sagt: 
Der Herr Abgeordnete Richter hat seine Rede mit der Behauptung 
begonnen, der Reichskanzler wäre heute zwar erschienen; aber er wäre nicht 
mehr derselbe wie früher; er wäre halbiert. Das ist eine Behauptung, die 
ich von Hause aus bestreite. Ich werde versuchen, zu zeigen, daß weder der 
Reichskanzler noch das Reich durch die Trennung, die in den Aemtern ein- 
getreten ist, eine Einbuße erlitten hat. Der Herr Abgeordnete Richter wird 
mir erlauben, den Fürsten Bismarck, den er für seine Meinung zitiert hat, 
auch für die meinige anzurufen. Ich bitte um die Erlaubnis, zunächst aus 
einer Rede des Fürsten Bismarck vom 25. Januar 1873 verlesen zu dürfen, 
wie er damals über die Stellung und den Wert des Amtes eines preußi- 
schen Ministerpräsidenten dachte. Er sagte: „Es ist sogar bei uns der 
eigentümliche Fall, daß der Präsident des Staatsministeriums, obschon 
ihm ein größeres Gewicht der moralischen Verantwortlichkeit als jedem anderen 
Mitgliede ohne Zweifel zufällt, doch keinen größeren Einfluß als irgend 
einer seiner Kollegen auf die Gesamtleitung der Geschäfte hat, wenn er 
ihn nicht persönlich sich erkämpft und gewinnt. Unser Staatsrecht verleiht 
ihm keinen. Wenn er diesen Einfluß gewinnen will, so ist er genötigt, ihn 
durch Bitten, durch Ueberreden, durch Korrespondenzen, durch Beschwerden 
beim Gesamtkollegium, kurz und gut, durch Kämpfe zu gewinnen, welche die 
Leistungsfähigkeit des einzelnen in sehr hohem Maße in Anspruch nehmen.“ 
In den späteren Jahren, in derselben Rede vom 5. März 1878, die der Herr 
Abgeordnete Richter teilweise zitiert hat, hat der Fürst Bismarck gesagt: 
„Im preußischen Ministerium hat der Ministerpräsident kein Veto. Da 
gibt es überhaupt keinen Ministerpräsidenten, nur einen Minister, der den 
Titel führt und die Debatte geschäftlich zu leiten hat und seine Kollegen 
bitten kann; aber zu sagen hat er nichts, auch kein Veto; und wenn sch 
jemals ein Ministerpräsident eines gewissen Einflusses auf seine preußischen 
Kollegen erfreut, so ist das doch gewöhnlich mehr das Ergebnis einer sehr 
langjährigen Dienstzeit und eines besonders hohen Maßes von Vertrauen, 
dessen er beim Monarchen genießt, aber nicht der Ausdruck der Insti- 
tution; der preußische Ministerpräsident hat gar keinen gesetzlichen Einfluß." 
Zweifellos ist diese Aeußerung des Fürsten Bismarck, daß der preußische 
Ministerpräsident gesetzlich gar keinen Einfluß hat, richtig, und ich kann auf 
die ersten Staatsrechtslehrer in dieser Beziehung verweisen. Es bleibt da- 
nach der persönliche Einfluß, und auch da klagt Fürst Bismarck, wie viel 
Kräfte er zusetzen muß, um diesen persönlichen Einfluß sich zu erhalten, und 
wie schwer ihm das wird. Können Sie erwarten, daß jemand, der nach dem 
Fürsten Bismarck Ministerpräsident wird, der bei seinem Eintritt ins Amt 
erkannt hat, daß das preußische Staatsministerium fortan eines stärkeren 
Hervorkehrens der kollegialischen Verfassung bedarf, — können Sie erwarten, 
daß der Mann denjenigen Einfluß auf das preußische Staatsministerium in 
kurzer Zeit gewinnen wird, den Fürst Bismarck noch im Jahre des Heils 
1878 nicht zu besitzen beklagt?. 
Nun habe ich mich umgesehen: wo liegen denn die Schattenseiten 
einer solchen Trennung? „Der leitende Staatsmann verliert den Einfluß 
 
	        
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