Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

90 Vas Denische Neicz und seine einzelnen Glieder. (Juli 9.) 
im engeren Sinne und dem Grundbesitze, der bei aller Fruchtbarkeit des 
Bodens aber nicht produktiv wird, wenn nicht das Gewerbe der Landwirt- 
schaft auf ihm mit Geschick betrieben wird. Die Trennung der Gewerbe, 
Handel und Landwirtschaft halte ich für eine irrige und irreführende. Der 
Handel kann in einem verarmenden Lande nicht gedeihen. Der Kaufmann 
steht sich unzweifelhaft besser, wenn er die Geschäfte eines wohlhabenden 
Hinterlandes und einer reichen Heimat zu besorgen hat, als wenn er nur 
einer armen und verarmenden Bevölkerung den Austausch und Verkehr der 
Waren vermitteln soll. Es ist also nicht richtig, wenn man annimmt, daß 
die Länder, in denen das Getreide am wohlfeilsten ist, die glücklichsten und 
prosperirendsten sind. Ich will nicht auf das Innere von Rußland hin- 
weisen, wo der Roggenpreis unter Umständen nur noch 30 bis 40 pét. 
von dem unserigen beträgt; und doch ist das Land deshalb nicht reich, es 
hat zwar reiche Leute, aber die Bevölkerung ist doch arm. Ich will auf 
meine eigenen Erfahrungen aus früher Jugendzeit zurückgreifen. In Hinter- 
pommern kostete damals der Wispel Roggen 11 Thaler, das sind 33.•4 
Dafür schickte mein Vater 8 Pferde und 3 Menschen mit 2 Wispel Roggen 
8 Meilen von seinem Gute nach Kolberg über sandige Berge. Die Leute 
kamen zurück mit einer Tonne Salz und einer Tonne Hering und hatten 
2 Thaler zugezahlt als Reisekosten. Die Tonne Salz kostete 15 Thaler, 
die Tonne Hering 7 Thaler, und die Reisekosten mit 2 Thalern hatten sie 
noch zuschießen müssen. So waren damals die Verhältnisse. War das ein 
Glück für das Land? Nein, in der ganzen Gegend waren kaum zwei Häuser, 
in denen Wein getrunken wurde, weißer und roter. Der Weinhändler und 
andere Kaufleute hatten kein Verdienst. Jetzt ist es anders. Es ist ein 
Irrtum, wenn man Handel und Gewerbe und Landwirtschaft von einander 
trennen will. Wir müssen zusammen gedeihen oder wir gehen zusammen 
zu Grunde. Ein durch ungeschickte Gesetzgebung und ungeschickte Handels- 
verträge verarmendes Land kann einen potenten Kaufmannsstand nicht er- 
nähren, weder gegenüber dem Auslande noch im inländischen Verkehr. 
Arme Gewerbe, arme Kaufleute! Damals, in der Zeit, von der ich sprach, 
hatten wir eigentlich gar keine Kaufleute. Was war Stettin damals für 
ein Nest! Das bischen Kornausfuhr, das bei diesen niedrigen Preisen von 
dort nach England ging, wo noch die Kornbill bestand, war das Einzige, 
und es war charakteristisch, daß es kaum eine Firma gab, die nicht drei 
Namen führte, weil Einer das Kapital nicht zusammenbringen konnte. Wie 
ist es jetzt geworden, wo die Kornpreise vier= bis sechsmal so hoch sind 
oder sein könnten wie damals. Ich möchte, da ich Vertreter beider Rich- 
tungen vor mir habe, Ihnen diese Gedanken ans Herz legen, daß Handel 
und Produktion unmittelbar zusammengehen müssen, daß beide sich schädigen, 
wenn sie sich trennen. Es ist ja früher von meinen Gewerbsgenossen, den 
Landwirten, viel auf die Industrie und deren Forderung gescholten worden, 
aber ich habe in meiner eigenen Landwirtschaft gesehen, welche Wohlthat 
für den Landwirt es ist, eine reiche Industrie in der Nähe zu haben. Ich 
erfahre das selbst, weil auf meinen pommerschen Gütern eine erhebliche 
Industrie besteht, die ich nicht selbst betreibe, die aber dort betrieben wird. 
Infolgedessen hat jeder Bauer und Arbeiter, soweit die Fürsorge der Re- 
gierung für die Arbeiter ihn nicht daran hindert, die Möglichkeit, auf eine 
oder die andere Weise sich und seine Kinder zu beschäftigen und zu er- 
nähren. Landwirtschaft und Industrie gehören zusammen und dürfen sich 
nicht entgegenarbeiten in der Gesetzgebung. Wo eine prosperierende In- 
dustrie ist, wie in den westlichen Provinzen, da hat die Landwirtschaft noch 
zu leben. Wo das nicht ist, sollte Industrie nach Möglichkeit geschaffen 
werden, und die Landwirte sollten sich zur Aufgabe stellen, sie zu pflegen.
	        
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