Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 25.) 7 
sagt werden, daß der Vorsitzende sich auf die äußere Leitung der Verhand— 
lung zu beschränken habe. Es ist vielmehr seine Pflicht, die Wahrheit zu 
ermitteln, und er wird es daher nicht vermeiden können, Zeugen und An— 
geschuldigte auf Widersprüche, Lücken und Unwahrscheinlichkeiten hinzuweisen 
und andere zur Aufklärung der Sache geeignete Bemerkungen zu machen. 
Der Vorsitzende wird jedoch gut thun, seine Vorhaltungen in die dem Ernst 
der Sache gebührende Form zu kleiden und auch da, wo Anlaß zu tadelnden 
Bemerkungen gegeben ist, sich jeder sarkastischen Färbung derselben zu ent— 
halten. Unter allen Umständen hat er es zu vermeiden, eine Haltung an— 
zunehmen, welche seine persönliche Stellung zur Schuldfrage als eine bereits 
feststehende erscheinen läßt. 
Die Sachlichkeit in der Leitung der Verhandlung muß besonders 
gegenüber dem Verteidiger beobachtet werden, in dessen Mitwirkung das 
Gericht ein wichtiges und nützliches Element der Findung materiell richtiger 
Entscheidungen zu erblicken hat. Aus dieser Auffassung von der Stellung 
des Verteidigers im Strafverfahren entspringt aber auch die Pflicht des Vor- 
sitzenden, im Einzelfalle auf die Einhaltung der der Verteidigung gezogenen 
Grenzen bedacht zu sein. Insbesondere muß einem Verhalten der Verteidi- 
gung, welches die Würde des Gerichts oder die Ehre der an der Verhand- 
lung beteiligten Personen beeinträchtigt, mit Entschiedenheit entgegengetreten 
werden. Im Laufe der Beweisaufnahme kann die Verteidigung Anträge 
und nach Maßgabe der Strafprozeßordnung Fragen stellen; es ist ihr aber 
nich zu gestatten, hieran Bemerkungen zu knüpfen, welche in den Schluß- 
vortrag gehören; insbesondere ist der Verteidiger nicht befugt, bei dieser Ge- 
legenheit die Aussagen der Zeugen und deren Glaubwürdigkeit einer Be- 
urteilung zu unterwerfen oder durch Hereinziehung von persönlichen Ver- 
hältnissen, welche mit dem Gegenstand der Verhandlung nicht im Zusammen- 
hange stehen, die Zeugen oder dritte Personen bloßzustellen. 
Eure Hochwohlgeboren ersuche ich, diese meine Auffassungen den zu Vor- 
sitzenden der Strafgerichte ausgewählten Richtern zur Beachtung mitzuteilen. 
Mit Bestimmtheit erwarte ich, daß nur solche Justizbeamte mir zur 
Beförderung in Präsidenten- und Direktorenstellen in Vorschlag gebracht 
werden, hinsichtlich deren eine hinreichende Beobachtung ergeben hat, daß 
sie die zur Erfüllung jener Anforderungen erforderlichen Eigenschaften be- 
sitzen. Auch ist thunlichst darauf hinzuwirken, daß bei der gemäß § 62 des 
Gerichtsverfassungsgesetzes den Präsidien obliegenden Geschäftsverteilung die 
vorstehend angegebenen Gesichtspunkte Berücksichtigung finden.“ 
25. Januar. (Berlin.) Vermählung der Prinzessin Mar- 
garete mit dem Prinzen Friedrich Karl von Hessen. Der 
russische Thronfolger ist dazu anwesend. 
26. Januar. Bei einem Frühstück, welches der Großfürst- 
Thronfolger beim Kaiser Alexander Garde-Grenadier-Regiment 
Nr. 1 einnimmt, bringt der Kaiser folgenden Toast aus: 
Gestatten Eure Kaiserliche Hoheit, daß Ich als ältester Kamerad des 
Regiments, altem Herkommen gemäß, das erste Glas auf Eurer Kaiferlichen 
Hoheit Allerdurchlauchtigsten Herrn Vater leere. Uns allen hier beim Regi- 
ment sind noch die gnädigen Worte in lebendiger Erinnerung, mit welchen 
Seine Majestät der Zar Sein Regiment beglückte bei Seinem Besuch im 
Jahre 1889. Die vielfachen Gnadenbezeugungen und das rege Interesse, 
welches Seine Majestät Seinem Regiment allezeit gewährt hat, sowie die 
freundschaftliche Anteilnahme an den festlichen Ereignissen Meines Hauses,
	        
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