Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

180 Bie# Gekeerreichisch-Augarische Monarchie. (Mai 17.) 
Oberhaupt kein Ausländer oder keine ausländische Behörde sein; auch darf 
die Kirche von keiner ausländischen Person oder ausländischen Behörde ab- 
hängen. Die Regierung wacht über die ordentliche Gebahrung und Ein- 
haltung der Statuten. Wer konfessionslos wird, muß zuvor die Rückstände 
bei der Konfession, der er früher angehörte, beglichen haben. Auch die 
Konfessionslosen, sowie die Fremden dürfen sich zu gemeinsamen Religions= 
übungen vereinigen. 
17. Mai. (Prag.) Großer Skandal im Landtag. 
Als die Sitzung eröffnet wurde, fehlten die Jung= und Alttschechen. 
Die Deutschen und die Abgeordneten des Großgrundbesitzes waren vollzählig 
anwesend. Kaum war der Oberst-Landmarschall Lobkowitz im Saale er- 
schienen, um die Sitzung zu eröffnen, ersuchte Abg. Dr. Engel ums Wort 
und verlangte die Auszählung des Hauses. Der Oberst-Landmarschall er- 
widert, daß es seine Sache sei, zu bestimmen, wann eine Auszählung vor- 
genommen werden solle oder nicht. Da sie aber von zwei Seiten verlangt 
werde, so wolle er das Haus auszählen lassen. Es wird sodann konstatiert, 
daß 137 Abgeordnete anwesend seien, daß also das Haus beschlußfähig sei. 
Bevor jedoch der Oberst-Landmarschall zur Beratung der Tagesord- 
nung übergehen will, erscheinen sämtliche Jung= und Alttschechen wieder im 
Saale. Nun sollte der Berichterstatter über die Errichtung eines Kreis- 
gerichts in Trautenau, Dr. Funke, das Wort ergreifen. Zuvor verlangt 
jedoch dasselbe „zur Geschäftsordnung" der Abg. Rutschera. Er bittet den 
Oberst-Landmarschall auf das Dringendste, diesen Gegenstand von der Tages- 
ordnung abzusetzen und zur Verhandlung des Budgets zu schreiten. Die 
Abgrenzungsvorlagen und die Vorlage, betreffend die Errichtung eines Kreis- 
gerichts in Trautenau, haben die höchste Erbitterung des tschechischen Volkes 
hervorgerufen. Er spreche im Namen des böhmischen Volkes, das in diesen 
Vorlagen den Beginn der Zerreißung des Landes und der Verdrängung 
der tschechischen Sprache aus tschechischem Gebiete erblicke. Der Oberst- 
Landmarschall erwidert mit einer Erklärung, in der er sagt, ein Abgeord- 
neter habe nicht das Recht, „im Namen des Volkes oder des Landes“ zu 
sprechen. Nur der Landtag selbst, resp. die Majorität desselben, vertrete 
die Meinung des Königreiches. Die Jungtschechen begleiten diese Erklärung 
des Oberst-Landmarschalls mit heftigen Zwischenrufen. Dr. Gregr ruft: 
„Es ist ein gefälschter Landtag!“ Andere Jungtschechen rufen: „Das ist 
nicht die Vertretung des Königreichs Böhmen!“ Auch die Großgrundbesitzer 
werden von den Jungtschechen apostrophiert; sie schreien: „Ihr habt kein 
Recht, hier zu sitzen!“ „Ihr seid nicht das Land!“ 2c. In diesem Lärm 
verlangt nun der Abg. Dr. Herold das Wort „zur Geschäftsordnung". Der 
Oberst-Landmarschall verweigert ihm jedoch dasselbe und fordert den Bericht- 
erstatter Dr. Funke zum zweitenmale auf, sein Referat zu erstatten. Dies 
gibt den Anlaß zu dem eigentlichen Tumult, auf den es offenbar abgesehen 
war. Die jungtschechischen Abgeordneten ziehen die Schubladen aus den 
Pulten, schlagen mit denselben auf, erheben die Fäuste und stampfen mit 
den Füßen — kurz es entsteht ein betäubender Lärm. Die Jungtschechen 
machen einen so ungeheuren Lärm, daß der Oberst-Landmarschall nicht zu 
Worte kommen kann. Hierauf läßt der Oberst-Landmarschall die Steno- 
graphen an den Berichterstattertisch des Abg. Dr. Funke treten und Dr. Funke 
diktiert ihnen seinen Antrag. Wie die Jungtschechen dies sehen, verlassen 
sie ihre Plätze und dringen lärmend an den Berichterstattertisch, s.oßen die 
Stenographen fort, zerreißen ihnen die Papiere, ballen die Papiere zusammen 
und werfen sie nach dem Berichterstatter und den Stenographen. Sie er- 
wischen auch die Akten der Kanzleibeamten des Landtages, schleudern sie
	        
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