194 Die Oesterreitisq · Angarishe Mosartzie. (Oktober 23.)
Prinzipien die Hand zu bieten, erkläre jedoch die Wahlreform-
vorlage in der gegenwärtigen Fassung im Interesse des Reiches und
der Länder für unannehmbar.
23. Oktober. (Wien.) Die Mitglieder des Abgeordneten-
hauses find nahezu vollzählig anwesend. Erste Lesung der Re-
gierungsvorlage über die Wahlreform. Der Ministerpräsident
gibt folgende Erklärung ab:
Als die Regierung mit dem Programm der derzeitigen Parlaments-
session sich beschäftigte, konnte sie nicht übersehen, daß die zahlreichen aus
der Initiative des Hauses hervorgegangenen Wahlreformanträge voraussicht-
lich in der nächsten Zeit zur parlamentarischen Behandlung gelangen werden.
Selbstverständlich war es Pflicht der Regierung, ihre eigene Stellung gegen-
über der Wahlreformfrage klar und unzweideutig zu präzisieren. Abgesehen
von diesem äußeren Anlasse, ließ die sorgfältige Beobachtung mannigfacher
Vorgänge des öffentlichen Lebens während der letzten Jahre innerhalb des
Staates wie im Auslande es der Regierung pflichtgemäß erscheinen, in dieser
ernsten und wichtigen Frage selbst die Initiative zu ergreifen, um durch
einen formulierten Gesetzentwurf ihre prinzipielle Auffassung zum Ausdruck
zu bringen. Schon dieser Entstehungsgeschichte ist zu entnehmen, daß der
Regierung eine feindselige Tendenz gegen irgend eine Bevölkerungsklasse oder
gegen irgend eine politische Partei gänzlich fernlag, und daß es nicht angeht,
die Einbringung dieses lediglich durch Erwägungen allgemein staatlicher
Natur veranlaßten Gesetzentwurfes als eine Maßregel zu bezeichnen, zu
welcher die Regierung sich etwa unter dem Drucke äußerer Faktoren ent-
schlossen hätte. Der Regierungsentwurf, der an den Grundlagen der be-
stehenden Verfassung festhält, drückt den leitenden Gedanken aus, die Aus-
übung des Wahlrechts allen einzuräumen, welche ihre staatsbürgerlichen
Pflichten in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfüllen. Dieser eine mög-
lichst große Erweiterung des Wahlrechts erzielende Grundgedanke erscheint
der Regierung als Postulat der Staatsraison, indem nur durch rechtzeitige
und ausreichende Erweiterung des Wahlrechts jene großen und schweren Ge-
fahren wirksam und dauernd abgewendet werden können, welche der bürger-
lichen Gesellschaft und damit der gesamten staatlichen Ordnung seitens der
bisher politisch rechtlosen Bolkselemente drohen. Die Regierung muß daher
ungeachtet des von den drei großen Klubs erhobenen Widerspruches an dem
Grundgedanken festhalten. Die Regierung spricht gleichzeitig die Ueber-
zeugung aus, daß, vorausgesetzt die prinzipielle Einigung über die von der
Regierung beabsichtigte Erweiterung des Wahlrechts selbst, es bei Schonung
der bestehenden politischen Besitzverhältnisse gelingen wird, den Weg zu dem
bezeichneten Ziele unter Mitwirkung des Hauses zu finden. Auf diese Dar-
legung ihrer Anschauungen glaubt sich die Regierung bei der ersten Lesung
aller Wahlreformanträge beschränken zu sollen. (Allgemeine anhaltende große
Bewegung.)
Pernerstorfer, Slavik und Baernreither begründen ihre Initiativ=
anträge. Plener bezeichnet die von der Regierung gegebene Darstellung
über die Entstehungsgeschichte der Wahlreform-Vorlage der Regierung für
unzutreffend, denn die Initiativanträge seien älteren Datums und die Re-
gierung bisher stets bestrebt gewesen, jedwede Wahlreform zu verhindern.
Die Darstellung der Regierung bezwecke, den üblen, durch ihren Theaterkoup
hervorgerufenen Eindruck zu verwischen; eine konservative Regierung hätte
die öffentliche Meinung vorbereiten müssen, anstatt sie zu überrumpeln. Eine