Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März Mitte —15.) 25
Mitte März. Der Reichstagsabgeordnete Hinze (deutschfreis.)
veröffentlicht einen „offenen Brief“ an seine Wähler. In dem Briefe
heißt es:
„Ich bedauere, daß eine solche Mißstimmung in den Wählern vorhanden
ist, tröste mich aber hierüber mit dem Bewußtsein, durch ernste und anhaltende
Arbeit zu einer besseren Erkenntnis der Bedeutung der Militärvorlage in ihren
einzelnen Teilen und in ihrem endschließenden Zwecke gekommen zu sein,
als vor meinem Eintritt in die Militärkommission. Der hieraus entstandenen
Ueberzeugung habe ich offenen, ehrlichen und begründeten Ausdruck gegeben.
Wenn ich nun in dieser meiner Ueberzeugung mich nicht im Einklang befinde
mit einem Teile meiner parlamentarischen Fraktionsgenossen und mit den
Parteigenossen des Fürstentums, so befinde ich mich doch in vollstem Ein-
klange mit dem Programm der deutschfreisinnigen Partei, auf welches hin
ich die Ehre hatte, mich um das Mandat des Wahlkreises zu bewerben und
dasselbe auch zu erhalten. Der Artikel V. des Programms vom 5. März
1884 lautet: „Erhaltung der vollen Wehrkraft des Volkes; volle Durch-
führung der allgemeinen Dienstpflicht bei möglichster Abkürzung der Dienst-
zeit; Feststellung der Friedenspräsenzstärke innerhalb der Legislaturperiode."
Aus dem Rahmen dieses Programms, zu dessen strengster Innehaltung ich
meinen Wählern gegenüber verpflichtet bin und bleibe, bin ich auch nicht
um eines Haares Breite herausgetreten. Innerhalb dieses Programms aber
muß ich für mich, als Abgeordneten, das Recht freier Bewegung in An-
spruch nehmen dürfen. Nur hierdurch fühle ich mich in der Lage, eine
feste Ueberzeugung von dem gewinnen zu können, was ich für das Wohl
des gesamten Volkes und des ganzen Vaterlandes als ersprießlich, notwendig
und zu schaffen auch für möglich halte. Nur in diesem Streben und fest-
stehend auf dem weiten Boden eines entschiedenen Liberalismus, habe ich
bis zur Stunde mein Mandat ausgeübt, werde in Zukunft dasselbe weiter
ausüben und werde endlich zu gegebener Zeit dem gesamten ersten Wahl-
kreise des Großherzogtums Oldenburg gern und offen Rechenschaft über
mein Verhalten ablegen.“
15. März. Die „Kölnische Zeitung“ bezeichnet den Beschluß
des Abg.-Hauses über die Reform des Wahlverfahrens als
„brutal und erbitternd“. Die rheinischen Kommunen würden da-
durch den Klerikalen ausgeliefert. Sie beschuldigt den Minister
Miquel als den Anstifter des klerikal-konservativen Kompromisses
und greift ihn in folgender Weise an:
Naturgemäß erhebt sich die Frage, in wessen Schuldbuch diese That
einzutragen sei. Wir wollen versuchen, diese berechtigte Frage in aller
Offenheit zu beantworten. Die nationalliberale Fraktion hat gleich nach
Schluß der Kommissionsberatungen versucht, diese geschickt angelegten Machi-
nationen des Zentrums dadurch zu vereiteln, daß sie den beiden konservativen
Fraktionen anbot, gemeinsam das Wahlgesetz gegen das Zentrum zu ge-
stalten. Die konservative Fraktion erklärte sich sofort bereit, auf diesen Weg
zu gehen, ebenso die freikonservative Fraktion. In den Verhandlungen,
welche daraufhin von je drei Delegierten aus den drei Fraktionen in zwei
Sitzungen geführt wurden, zeigte es sich, daß sachlich Uebereinstimmung
zwischen den drei Fraktionen gegen diese vom Zentrum beliebten Bestim-
mungen vorhanden war. Die Vertreter der konservativen Fraktion traten
aber von ihrem diesem Kartell zustimmenden Standpunkt zurück, und zwar,