Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Mebersicht der polilischen Euntwichelunz des Jahres 1893. 365 
gang eingehender berichtet. Die zum Zweck der Verfassungsrevision 
gewählte Kammer hatte eine klerikale Majorität, da aber für die 
Beschlüsse Zweidrittel-Mehrheit notwendig war, so mußte das Mini- 
sterium Beernaert suchen die Parteien zu einem Kompromiß zu 
bringen. Die Klerikalen zogen das Haushalts-, die Liberalen das 
Kapazitäts-Wahlrecht vor, das Ministerium wollte beides kom- 
binieren. Aber dieser Kompromiß erreichte in der Kammer, wenn 
auch die einfache, so doch nicht die Zweidrittel-Majorität; das all- 
gemeine Stimmrecht erlangte nur 26 Stimmen gegen 115 (12. April). 
Jetzt begann das Volk mit Gewalt vorzugehen. Schon im Februar 
hatte man eine große freiwillige Abstimmung für das allgemeine 
Stimmrecht in Brüfsel insceniert. Als nun die Kammer das all- 
gemeine Stimmrecht abgelehnt hatte, mußte die gesamte Bürger- 
wehr aufgeboten werden, um das königliche Palais, das Parlament 
und die Ministerien, für die ein eigenes Gesetz eine „neutrale Zone“, 
in der Demonstrationen verboten find, geschaffen hatte, vor Gewalt- 
thaten zu schützen. Versammlungen, Aufzüge, Tumulte in Brüssel, 
Antwerpen, Mons setzten Tag für Tag die Bourgeoisie in Schrecken. 
Vor allem aber stellten die Arbeiter in den großen Industrie-Centren 
die Arbeit ein und erklärten, daß sie so lange streiken würden, bis 
ihnen das allgemeine Stimmrecht gewährt sei. Diesem Druck gab 
die regierende Klasse endlich nach. Sieben Tage nach jener Ver- 
werfung wurde ein ganz neu auftauchender Antrag des Professor 
Nyssens angenommen, der sich vom allgemeinen Stimmrecht nur 
wenig unterscheidet. Eine Familie, gewisser ziemlich geringer Besitz 
und höhere Bildung geben außer der einfachen Bürgerstimme jedes 
25 jährigen eine weitere Stimme. Niemand hat aber mehr als drei 
Stimmen. Mit diesem Beschluß ist die Verfassungsreform wohl 
prinzipiell entschieden, aber eine Reihe von wichtigen Fragen stehen 
noch aus, namentlich ob nach dem sogenannten Proportionalsystem 
gewählt werden soll. Auch die Zusammensetzung des Senats wurde 
nach langen Verhandlungen neu geordnet. Der Census für die 
Höchstbesteuerten, aus denen 76 Senatoren gewählt werden, wurde 
auf 1200 Frcs. herabgesetzt; das Minimalalter der Wähler, sonst 
derselben, die auch für die zweite Kammer wählen, auf 30 Jahre 
bestimmt (29. Juli). Das sog. Königsreferendum, eine ganz neue
	        
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