Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 35 
von neuem hervorzuheben; denn unter der Menge von Details, unter den 
heftigen Kämpfen um Einzelfragen sind die wesentlichen Gesichtspunkte viel- 
fach in den Hintergrund getreten und verdunkelt worden. Von all den 
einzelnen Fragen hat keine einen so breiten Raum eingenommen, als die der 
zweijährigen Dienstzeit. Während auf der einen Seite gerade die Partei, 
in deren Geschichte und in deren Richtung es nach meinem Dafürhalten lag 
und liegen mußte, in dieser Frage mit den verbündeten Regierungen zu 
gehen, — zwar theoretisch die Notwendigkeit der zweijährigen Dienstzeit 
anerkannt, aber nicht gewillt war, diejenigen Konsequenzen zu ziehen, mit 
denen allein die verbündeten Regierungen die zweijährige Dienstzeit an- 
nehmen konnten, fanden auf der andern Seite die konservativen Parteien, 
die traditionell durch Jahrzehnte für die dreijährige Dienstzeit gefochten 
hatten, eine natürliche Schwierigkeit darin, jetzt zur zweijährigen Dienstzeit 
überzugehen. Ich kann im Namen der Regierungen den Konservativen 
nicht genug dafür danken (Bravo! rechts), daß, so lange es Konservative 
in Deutschland und Preußen gegeben hat, sie bei allen Fragen der Heeres- 
verstärkung und auch in diesem Falle auf Seiten der Regierungen standen 
und ihre Einzelüberzeugung im Interesse des ganzen unterdrückt haben. 
(Lebhaftes Bravo! rechts, Heiterkeit links.) 
Wenn man diese Einzelfragen ausschält und auch von der zwei- 
jährigen Dienstzeit absieht, die die verbündeten Regierungen Ihnen ja nur 
vorgeschlagen haben, um das große Ziel, das sie erreichen wollten, erreich- 
barer zu machen, so wird es sich fragen: Was war denn das wesentlichste 
Ziel der verbündeten Regierungen? Das war, die Wehrkraft Deutschlands 
zu stärken, sie in einen Zustand zu bringen, der uns nicht nötigt, von der 
politischen Rolle, die wir bisher eingenommen haben, abzudanken, der uns 
nicht nötigt, zurückzutreten in der Reihe der europäischen Mächte. Wir 
haben die Ueberzeugung gewonnen, daß die Wehrkraft, so wie sie jetzt liegt, 
nicht ausreicht. 
Man entgegnet uns von der anderen Seite: sie reicht wohl aus, 
warum sollte sie nicht ausreichen? man stellt Berechnungen allerlei Art an 
und sucht uns mit Zahlen zu widerlegen. Diese Methode kann keinen oder 
wenigstens nicht den Erfolg haben, die verbündeten Regierungen zu über- 
zeugen; es ist überhaupt nicht möglich, durch irgend eine Art von Exempel 
festzustellen, was dazu gehört, um zu siegen. Es wird immer unvermeidlich 
sein, daß man in diesen Fragen denjenigen, deren Beruf es ist, sich mit 
ihnen zu beschäftigen, ein größeres Gewicht beimißt als solchen, die nur 
gelegentlich und laienhaft in diese Dinge eintreten. (Hört! hört! links. 
Sehr gut! rechts.) Wir müssen den Anspruch erheben, daß diejenigen 
Männer, die nicht allein im Frieden diese Fragen zu erörtern haben, sondern 
die auch im Kriege mit Ehre und Reputation für das Gelingen der Auf- 
gabe eintreten müssen, die ihnen zufällt, — daß diesen Männern ein höheres 
Gewicht beigelegt wird als anderen Stimmen. 
Man hat uns durchfühlen lassen: Euch halten wir für keine Autori- 
tät; wenn Ihr noch Moltke und Roon wäret, wollten wir mit uns reden 
lassen. Ich bedauere, daß diese Männer nicht mehr an dieser Stelle stehen; 
denn ich bin überzeugt, sie würden noch entschiedener, noch bestimmter, noch 
besser, als wir es vermögen, für die Forderung eintreten, die wir heute zu 
vertreten haben. 
Aber was haben sie denn, die Herren, die die Opposition bilden, 
für eine Berechtigung, an der Autorität der deutschen Generale zu zweifeln? 
Als die Herren von Roon und von Moltke am Anfang der sechziger Jahre 
die Militärvorlage vertraten, hatte der eine, soviel ich weiß, die badensche 
Kampagne hinter sich und der andere eine Schlacht in Kleinasien. Die 
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