Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3.) 43 
falle die älteren Jahrgänge an diejenige Stelle zu bringen, die ihrem Alter 
entspricht, die den verheirateten Mann, den Familienvater mehr schont wie 
den jungen Mann. 
Und wie sieht es denn nun nach außen aus? Ich habe letzt einen 
Deutschen gesprochen, der jahrelang im Ausland lebt, — ein urteilsfähiger 
patriotischer Mann, der sagte: ich habe noch nie, so lange ich im Ausland 
lebe, ein so peinliches Gefühl gehabt, als jetzt während der Debatten im 
Reichstag über die Militärvorlage; man versteht gar nicht, wie der deutsche 
Reichstag so schwierig sein kann in der Bewilligung einer Vorlage, die die 
Regierung, die die militärischen Autoritäten für notwendig halten. (Sehr 
richtig! rechts.) Und, meine Herren, vergegenwärtigen Sie sich einmal, wie 
die fremde Presse — ich will keine Staaten nennen — aussehen wird, wenn 
die Militärvorlage gefallen ist. Noch hält sie sich zurück, aber es wird 
peinlich sein, dies zu lesen, was dann über uns, über unsern Patriotismus 
gesagt wird. (Sehr richtig! rechts.) Hält der Schwächezustand, in dem 
wir uns befinden, an, nimmt er zu, so werden wir bis zu einem gewissen 
Grade unsere Gegner in die Versuchung führen, leichter mit uns anzubinden, 
als sie es bisher gethan haben. (Sehr richtig! rechts.) 
Alles das sind Momente, die im Frieden schon das Fehlen einer 
verstärkten Wehrkraft empfindlich machen werden. Bei einem Scheitern 
der Militärvorlage würde der Eindruck der Schwäche, der nicht weitgehenden 
Opferwilligkeit zurückbleiben. 
Nun hat man uns Gegenvorschläge gemacht. Zuerst die Miliz. Die 
wurde nur von den sozialdemokratischen Herren Abgeordneten leicht gestreift, 
und ich glaube, man kann, ehe man hier im Plenum darauf eingeht, noch 
einige Zeit warten, eine Majorität für die Miliz würde sich schwerlich 
finden. Aber es waren Richtungen da, die der Miliz vorarbeiteten, geradeso 
wie es Richtungen gibt, die der Sozialdemokratie auch im übrigen vorar— 
beiten. (Bewegung.) Was ist denn Miliz? Miliz ist eine kurz dienende 
Truppe mit schwacher Friedenspräsenzstärke, und da haben sich die Herren 
gefunden. Auch heute liegt ein solcher Antrag wieder vor, der darin so 
weit geht, daß wir uns der Miliz nicht unerheblich nähern würden; denn 
wenn man uns zumutet, die zweijährige Dienstzeit innerhalb der jetzigen 
Präsenzstärke anzunehmen, so ist das nach meinem Dafürhalten der erste 
Schritt auf dem Wege zur Miliz. 
Der Antrag Althaus, der uns heute vorliegt, wiederholt einen An— 
trag, der auch in der Kommission gemacht worden ist, der da widerlegt 
worden ist, und ich brauche mich wohl nur auf die Worte zu beschränken, 
daß er heute den verbündeten Regierungen ebenso unannehmbar ist, als er 
es in den Tagen der Kommissionsberatungen war und als er es für die 
Zukunft ist. 
Dasselbe gilt von dem zweiten Antrage, der damals Lieber hieß, 
heute als Graf Preysing erscheint. Wir sind nicht im stande, auf diesen 
Antrag einzugehen. Auch der Antrag trägt die charakteristischen Kennzeichen 
eines beginnenden Milizsystems. (Heiterkeit links.) 
Nur ein Wort noch in Bezug auf meine Aeußerungen in Bezug 
auf den Patriotismus! Ja, meine Herren, diese Aeußerung habe ich ge- 
than; es würde mir unendlich schmerzlich sein, wenn ich jemals in die Lage 
käme, von dem deutschen Reichstag oder von einzelnen Mitgliedern desselben 
glauben zu müssen, daß er nicht patriotisch wäre. Bis zu einem gewissen 
Grade bin ich aber doch zweifelhaft geworden. Mir liegt hier ein Blatt 
vor, das heißt „Der Beobachter am Main“, und das gibt eine Rede des 
Herrn Abg. Dr. Lieber wieder, in der er sagt: 
Lassen Sie es mich einmal öffentlich aussprechen, meine Freunde!
	        
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