Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5.—6.) 51 
nur um eine Wahlparole, ich habe aber keine Verpflichtung, meinen Patriotis- 
mus gegenüber dem Reichskanzler zu verteidigen. Wie weit ich auch hinter 
allen Herren vom Bundesratstische und von der rechten Seite sonst zurück- 
stehen mag, an Patriotismus werde ich mich nicht übertreffen lassen. (Lachen 
rechts.) Wenn wir uns wegen unseres Patriotismus verhöhnen, dann können 
wir ja zu den alten Bismarck'schen Allüren zurückkehren, dann nennen wir 
uns doch wieder Reichsfeinde und dann kann ja der alte Tanz, den wir 
durch die Reichskanzlerschaft des Grafen Caprivi für beendet hielten, wieder 
beginnen, und der Reichskanzler kann dabei die erste Fackel tragen. 
Graf Caprivi hält in seiner Erwiderung an seiner Auf- 
fassung fest und sagt u. a.: 
Die Annahme des Antrags Graf Preysing würde unsern aktiven 
Dienststand verschlechtern, unsern Beurlaubtenstand verschlechtern, das Zahlen- 
verhältnis zwischen aktivem und Beurlaubtenstand im Kriegsfall verschlechtern, 
den Uebergang in die Mobilmachung verlangsamen und dadurch die Zeit 
verlängern, in der ganz Deutschland bei Ausbruch eines Krieges im wesent- 
lichen wehrlos ist. Einen solchen Antrag anzunehmen, bin ich außer stande. 
Ich habe, seit ich die Ehre habe, an dieser Stelle zu stehen, manchen An- 
griff, manchen Tadel ausgehalten; ich habe das hingenommen, wie man 
eben gutes und schlechtes Wetter hinnimmt. (Heiterkeit.) Aber mich dem 
Tadel aussetzen vor Mit- und Nachwelt, daß ich einem Vorschlage das Wort 
geredet hätte, von dem ich überzeugt bin: er schädigt Deutschland, er in- 
volviert Gefahren für Deutschland, den Tadel möchte ich auf das entschie- 
denste von mir fernhalten. Es würde mir schwer sein, wenn ich ihn je 
hören oder gar glauben müßte, ihn verdient zu haben. Ich würde als 
Staatsmann und als Soldat gewissenlos, pflichtvergessen handeln und ge- 
handelt haben, wenn ich nicht meine ganze Kraft einsetzte für das, was ich 
im Interesse des Deutschen Reichs für notwendig halte. (Bravo! rechts.) 
Der Antrag Preysing-Lieber aber liegt in ganz entgegengesetzter Rich- 
tung, und ebenso gewissenlos und pflichtvergessen würde ich handeln, wenn 
ich nicht meine letzte Kraft einsetzte, um diesen Antrag zu bekämpfen. 
Das vor dem Lande auszusprechen, ist mir Bedürfnis gewesen. (Leb- 
haftes Bravo! rechts.) 
v. Bennigsen erklärt, daß ein Teil seiner Freunde bereit sei, auch 
für die ganze Vorlage zu stimmen. 
Payer (südd. V.-P.) gegen die Vorlage. 
v. Komierowski (Pole) dafür. 
v. d. Decken (Welfe), Winterer (Elsässer) dagegen. 
5. Mai. Herr Sigl im „Bayerischen Vaterland“ schreibt: 
„Der nächste Krieg soll Preußen zum Alleinherrscher im Deutschen 
Reiche machen, darum müssen wir Bayern Millionen an Geld und Hundert- 
tausende des besten Menschenmaterials opfern. Darum hat dieser Zukunfts- 
krieg für Bayern eine ganz besondere Bedeutung, er entscheidet über unser 
Sein oder Nichtsein. Endigt dieser Krieg mit unserer Niederlage, dann 
mag es wohl aus sein mit dem Deutschen Reich, der Sieger hat jedoch ein 
großes Interesse daran, Bayern zu schonen. Geht jedoch Deutschland als 
absoluter Sieger aus dem Kampfe hervor, wie im letzten Kriege — was 
wird dann aus Bayern? Eine königlich preußische Provinz! Ein sieg- 
reicher Krieg wäre für Bayern das — Ende!“ 
6. Mai. (Reichstag.) Fortsetzung. 
Nach einer kurzen Debatte wird durch eine Vereinigung der 
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