Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

54 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 8.—9.) 
Einleitung zu einer Fusion der beiden betrachtet. Der Gedanke 
stößt jedoch in Süddeutschland auf Widerspruch. Das Hauptblatt 
der Bayerischen Demokratie, der „Nürnberger Anz.“, verwahrt sich 
dagegen in folgendem Artikel: 
„Das wissen wir, daß das deutsch-freisinnige Programm mit seiner 
schließlichen ostentativen Betonung der Treue zu Kaiser und Reich, daß der 
königlich preußische Loyalitätszopf, wie ihn auch ein großer Teil der Gruppe 
Richter noch trägt, daß der norddeutsche Nationalitätsdünkel, abgesehen 
von den bisherigen Programmunterschieden, ehrlichen, demokratisch gesinnten 
Männern wider den Geschmack und auch die Gesinnung ist. Persönliche 
Neigung und Sympathien für einzelne Angehörige der freisinnigen Partei 
vermögen darin nichts zu ändern. Und darüber können sich auch die Herren 
Haußmann und Payer nicht im Unklaren befinden." 
8. Mai. Die „Köln. Ztg.“ stellt fest, daß in der vom Reichs- 
kanzler zitierten Rede des Dr. Lieber in Aschaffenburg der Redner 
nach dem stenogr. Berichte auch gesagt habe, 
„daß er ein Mußpreuße sei, im Jahre 1866 an Preußen annektiert 
und seitdem der Krone Preußens unterworfen; von angestammter Unter- 
thanentreue könne da keine Rede sein. In diesem Zusammenhang, in dem 
er sich von dem Vorwurf einer preußischen Gesinnung zu reinigen suchte, 
wandte der Redner sich gegen den Freiherrn von Schorlemer-Alst folgender- 
maßen: 
Es hat ein sonst von mir hochverehrter, ein um die Partei des Zen- 
trums vielfach verdienter preußischer Edelmann kürzlich in einer deutschen 
Adelsversammlung den Satz ausgesprochen, das Haus der Hohenzollern sei 
der Hort der Monarchie in Deutschland nicht nur, sondern in ganz Europa. 
Ich erkläre, daß dies nicht der Standpunkt des Zentrums ist .. Wir 
erkennen gern an, daß das Haus Hohengollern, seit es die deutsche Kaiser- 
krone trägt, berufen ist, als Hort der Reichsverfassung, wie die Rechte des 
Volkes, so auch die Rechte der verbündeten Fürsten und freien Städte zu 
schützen. Allein wir werden durch keinen Ablauf der Zeit uns bestimmen 
lassen, das Unrecht der Vergangenheit, welches von diesem Hause ausgegangen 
ist, Recht zu nennen. Dies in Bezug auf den Hort der Monarchie.“ 
8. Mai. (Berlin: Abgeordnetenhaus.) Namentliche 
Schlußabstimmung über das Vermögenssteuergesetz, das mit 215 
gegen 25 Stimmen angenommen wird. 
Das Zentrum enthält sich mit Ausnahme des Abg. Kersting, der 
mit Nein stimmt, der Abstimmung. Gegen das Gesetz stimmen außer den 
Freisinnigen von den Nationalliberalen die Abg. v. Eynern und Friedberg, 
sowie der frühere Minister des Innern Herfurth. 
8. Mai. (Bückeburg.) Fürst Adolf Georg zu Schaum- 
burg-Lippe f.B 
9. Mai. Der Kaiser hält auf dem Tempelhofer Felde nach 
dem Vorbeimarsch der Bataillone eine Ansprache an die Generale 
und Stabsoffiziere (nach der „Nordd. Allg. Ztg.“): 
„Seitdem wir uns nicht gesehen, sind eigene Wandlungen mit der 
Militärvorlage vor sich gegangen. Ich habe nicht deren Ablehnung er-
	        
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