Das Veesche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 10. u. 11.) 55
warten können und hoffte von dem patriotischen Sinne des Reichstages eine
unbedingte Annahme. Ich habe mich darin leider getäuscht. Eine Mino-
rität patriotisch gesinnter Männer hat gegen die Majorität nichts zu er-
reichen vermocht, dabei sind leidenschaftliche Worte gefallen, welche unter
gebildeten Männern ungern gehört werden. Ich mußte zur Auflösung
schreiten und hoffe von einem neuen Reichstage die Zustimmung zur Militär-
vorlage. Sollte aber auch diese Hoffnung täuschen, so bin ich gewillt, alles,
was ich vermag, an die Erreichung derselben zu setzen, denn ich bin zu sehr
von der Notwendigkeit der Militärvorlage, um den allgemeinen Frieden er-
halten zu können, überzeugt. Man hat von Aufregung der Massen ge-
sprochen; ich glaube nicht, daß sich das deutsche Volk von Unberufenen er-
regen lassen wird. Im Gegenteil, ich weiß mich Eins in dieser Militär-
vorlage mit den Bundesfürsten, mit dem Volk und mit der Armee. Ich
danke. meine Herren, ich habe mich Ihnen gegenüber nur aussprechen wollen,
wie ich es beim Entstehen der Vorlage gethan.“
10. u. 11. Mai. Die Parteien erlassen ihre Wahlaufrufe.
In dem deutsch-konservativen heißt es:
Die deutsche konservative Partei tritt nach wie vor für die volle
Wehrkraft unseres Volkes ein und sieht in derselben eine unerläßliche Be-
dingung für die deutsche Machtstellung und für die Erhaltung des Frie-
dens. Mehraufwendungen, die unvermeidlich sind, müssen ihre Deckung
durch eigene Einnahmen des Reiches finden; diese Lasten dürfen nicht den
Unbemittelten, den Mittelstand oder die Landwirtschaft drücken, dagegen sind
andere bisher zu sehr geschonte Steuerquellen heranzuziehen.
Wir bekämpfen den Abschluß von Handelsverträgen, welche der Land-
wirtschaft neue Opfer auferlegen würden, und unterstützen die Bestrebungen,
welche auf die Vereinigung der Landwirte zum Zwecke der nachdrücklichen
Vertretung ihrer berechtigten Forderungen gerichtet sind. Wir erstreben
den Schutz unserer vaterländischen Arbeit gegen die ansländische Konkurrenz,
welche durch die zeitigen internationalen Währungsverhältnisse von Tag zu
Tag gesteigert wird. Im Hinblick auf den schweren Druck, welcher unser
gesamtes Erwerbsleben belastet, treten wir ein für die Erhaltung und für
die Kräftigung des Mittelstandes in Handel und Gewerbe, im Handwerk
und in der Landwirtschaft.
Wir bekämpfen demagogische Umtriebe jeder Art, welche darauf hin-
arbeiten, die Gesinnungen weiter Kreise unseres Volkes durch Lug und Trug
in Wort und Schrift irre zu leiten und zu vergiften.
Das Bekenntnis zu der christlichen Weltanschauung, welche ihre Be-
thätigung in unserem Volksleben, in der Gesetzgebung und in der Hand-
habung der Gesetze finden muß, ist der feste Grund in den Wirren der Zeit
und die Lebenskraft jeder berechtigten Autorität.
Die deutsche konservative Partei ist entschlossen, in Vertretung dieser
Grundsätze und Ueberzeugungen, mit voller Selbständigkeit und unentwegt
weiter ihre Dienste der Monarchie und dem Vaterlande zu weihen."“
Der freikonser vative sagt:
Die gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands beruht auf
dem von dem Fürsten Bismarck in unsere Wirtschaftspolitik eingeführten
Grundgedanken gleichen Schutzes aller Zweige der nationalen Arbeit und
gleichmäßiger Förderung der Interessen von Landwirtschaft, Industrie und
Handwerk. Hieran ist festzuhalten, unter besonderer Berücksichtigung von
Landwirtschaft und Handwerk, welche schwer um die Eristenz ringen. Nur
so wird es gelingen, Deutschland einen kräftigen Mittelstand in Stadt und