Das NVernische Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 10. u. 11.) 59
führt. Wir sind zu dieser Trennung gedrängt worden, weil wir nicht ge-
willt waren, uns von langjährigen treuen Mitkämpfern zu scheiden, deren
Uebereinstimmung mit ihren Kollegen in allen übrigen politischen Fragen
keinem Zweifel unterliegt.
Diese Meinungsverschiedenheit über das Maß der politischen Duld-
samkeit, das innerhalb eines Fraktionsverbandes herrschen soll, hindert aber
nicht, daß beide getrennte Teile nach wie vor auf dem unveränderten frei-
finnigen Parteiprogramm verharren, in welchem eine breite Unterlage für
ein politisches Zusammenwirken gegeben ist.
Nachdem sich die Trennung einmal vollzogen hat, wird es sich darum
handeln, die gemeinsame freisinnige Sache vor weiterer Schädigung zu be-
wahren. Wir richten deshalb an alle Parteifreunde die dringende Auf-
forderung, im Wahlkampfe nicht zu vergessen, daß uns gemeinsame frei-
finnige Grundsätze verbinden.
Für diese Grundsätze wird die „Freisinnige Vereinigung“ mit allen
Kräften eintreten.
Wir verfechten eine Handels= und Wirtschaftspolitik, die den täg-
lichen Lebensunterhalt der großen Massen vor Verteuerung schützen will.
Wir wollen unser gesamtes wirtschaftliches Leben vor schweren Erschüt-
terungen bewahren, indem wir dem verderblichen Streben nach Einführung
der Doppelwährung entgegentreten. Wir wollen durch eine Fortführung
der Politik der Handelsverträge unsere friedlichen Beziehungen zum Aus-
lande befestigen und dem gesamten wirtschaftlichen Leben durch Erschließung
neuer Märkte einen neuen Aufschwung geben. Wir wollen dem neidischen
und kleinlichen Geist polizeilicher Bevormundung entgegentreten, der mit
unberechtigtem Mißtrauen dem Handel und Wandel enge Fesseln anzu-
legen sucht.
Dieser Wahlkampf bringt aber voraussichtlich auch die Entscheidung
darüber, ob die Grundlage unseres gesamten politischen Leben unangetastet
bleiben soll. Ganz unzweideutig haben die Konservativen es ausgesprochen,
daß sie eine Beseitigung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechtes
anstreben. Alles werden wir daher einzusetzen haben, um von unserer poli-
tischen Freiheit diese schwerste Schädigung abzuwehren, welche von einer
gesunden Bethätigung am öffentlichen Leben insbesondere die Arbeiter ab-
drängen würde, deren politische Rechte in ihrem eigenen, wie im allgemeinen.
Interesse unverkürzt erhalten bleiben müssen.
Je tiefer das deutsche Volk durch eine demagogisch betriebene eng-
herzige Interessenpolitik und durch die antisemitische Bedrohung der Rechts-
gleichheit zerklüftet ist, um so nötiger erscheint die Verwirklichung unserer
Grundsätze. Dem deutschen Bürgertum, welches nicht ohne eigene Schuld
einen so unverhältnismäßig geringen Einfluß auf die Entwickelung unseres
öffentlichen Lebens ausübt, erwächst die Verpflichtung, politisch und wirt-
schaftlich freien Anschauungen einen breiteren Boden zu gewinnen. Nur
der von aller Engherzigkeit freie Liberalismus kann das Deutsche Reich vor
einer verhängnisvollen Entwickelung schützen und dem Freifinn jenen gesetz-
geberischen Einfluß erobern, ohne welchen Deutschland seine Kulturaufgaben
nicht zu erfüllen vermag. Im Auftrage: Ludwig Bamberger. Theodor
Barth. Karl Schrader."
Der Bund der Landwirte erläßt folgenden Aufruf:
Landwirte Deutschlands! Der Reichstag ist aufgelöst. Schneller, als
wir es erwarten konnten, wird uns die Gelegenheit geboten, zu zeigen, daß
die deutschen Landwirte fest entschlossen sind, für die Forderungen einzu-
treten, welche sie zur Einigung im Bund der Landwirte geführt haben.