74 Das Dentsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Juni 18.)
Person des linksliberalen Kandidaten mache das unmöglich. Mittelparteiler,
d. h. Nationalliberale und Freikonservative, und die Sozialdemokraten können
unter keinen Umständen unterstützt werden, und wo also diese unter sich
zur Stichwahl stehen, müssen sie allein gelassen werden und die Zentrums-
wähler sich der Stimmen enthalten. Konservative können, wenn die Person
nicht als besonderer Kulturkämpfer, Zentrumsfeind und dergleichen bekannt
ist, da unterstützt werden, wo ihr Gegner zweifellos das größere Uebel ist.
So ist die richtige Zentrumsparole für die Stichwahlen!“
Die Parole der „Kreuz-Ztg.“" lautet:
„Den sogenannten Ordnungsparteien kann es unter den jetzigen Ver-
hältnissen ziemlich gleichgültig sein, ob ein Sozialdemokrat oder ein Richter-
scher Volksparteiler mehr in den Reichstag gelangt. Sie werden daher nicht
geneigt sein, die „freisinnige Volkspartei“ bei den Stichwahlen gegen sozial-
demokratische Kandidaten zu unterstützen, wenn Richter ihnen nicht bindende
Erklärungen abgibt, daß seine politischen Freunde in allen Fällen, wo
Sozialdemokraten in Frage kommen, Reziprozität üben werden. Die Kon-
servativen möchten wir wenigstens hiermit ausdrücklich aufgefordert haben,
überall in Stichwahlen zwischen Volksparteilern und Sozialdemokraten sich
der Wahl zu enthalten, wenn eine solche Erklärung nicht offiziell und in
bündiger Form abgegeben wird.“
Der „Vorwärts“ gibt als offizielles Parteiorgan der Sozial-
demokratie den Genossen folgende Verhaltungsmaßregeln:
„Der Berliner Parteitag hat insofern Stellung zur Frage der Stich-
wahlen zwischen gegnerischen Kandidaten genommen, als er sich gegen die
absolute und prinzipielle Wahlenthaltung aussprach. Unmittelbar vor der
Auflösung des Reichstags beschäftigte die sozialdemokratische Fraktion nebst
dem Parteivorstand sich mit dieser Frage, und einstimmig wurde dahin ent-
schieden, unseren Genossen zu empfehlen, daß sie, wo das Interesse der Partei
es erfordert, sich an den Stichwahlen zwischen gegnerischen Kandidaten be-
teiligen; jedoch nur dann, wenn der gegnerische Kandidat, der um unsere
Stimmen wirbt, sich in klaren, nicht mißzudeutenden Worten verpflichtet,
falls er gewählt wird, im Reichstag rückhaltlos entgegenzutreten: 1) jeder
Vermehrung des stehenden Heeres über den gegenwärtigen Präsenzstand
hinaus; 2) jeder Vermehrung der Steuerlast; 3) jeder Beschränkung der
Volksrechte, namentlich jedem Angriff auf das allgemeine, gleiche, geheime
und direkte Wahlrecht. Wer sich diesen Mindestbedingungen nicht unter-
wirft, kann keine sozialdemokratische Stimme erhalten. Und die Ehre und
das Interesse der Partei gebieten unseren Genossen, in allen denjenigen
Fällen, wo unsere Bedingungen nicht klipp und klar angenommen werden,
sich der Wahl zu enthalten und mit allem Nachdruck für Wahlenthaltung
thätig zu sein. Das Prinzip der Partei darf in keinem Falle örtlichen
oder persönlichen Rücksichten geopfert werden."“
18. Juni. (Friedrichsruh.) Huldigung der Mecklenburger
beim Fürsten Bismarck. Der Fürst hält folgende Rede:
„Meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen, daß Sie den weiten
Weg, den Staub und den Wind nicht gescheut haben, um mir heute die
Ehre zu erzeigen, Sie hier zu sehen. Ich danke Ihnen von Herzen dafür
und ich danke Ihnen insbesondere, daß Sie gerade den heutigen Tag zur
Begrüßung gewählt haben, der für unsere heimische Geschichte vielfach ein
bedeutsamer gewesen ist. Vor 200 — ich weiß nicht genau wie viel —
Jahren war die Schlacht bei Fehrbellin, die auch dazu beigetragen hat, Deutsch-