Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

88 Das Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 8.) 
auf die Weise ergehen wie dem preußischen Herrenhause, welches auch aus 
Mangel an initiativer und bemerkbarer Thätigkeit nicht die Autorität hat, 
die ein Oberhaus haben sollte. Und Gott möge verhüten, daß der obere 
Faktor unserer Gesetzgebung, der Bundesrat, in der öffentlichen Meinung 
Deutschlands die Gleichberechtigung mit dem Reichstage verliere. 
Ich bin da, wie es Einem natürlich ergehen wird, der zeitlebens 
Politik getrieben hat und der nichts zu thun hat, als über die Vergangen- 
heit nachzudenken, in eine weitläufige Erörterung gekommen, von der ich 
hoffe, daß sie Ihnen nicht ohne Interesse war, und die dazu beitragen möge, 
daß, wenn Sie nach Hause kommen, Sie dafür wirken werden, daß die 
Beteiligung an der Reichspolitik auch in der Diaspora der Landtage leb- 
hafter werden wird. 
Es ist ein Irrtum, wenn Staatsrechtslehrer behaupten, die Land- 
tage seien dazu nicht berechtigt; sie sind immer befugt, das Auftreten ihrer 
Minister in Bezug auf die Reichspolitik vor ihr Forum zu ziehen und ihre 
Wünsche den Ministern kund zu thun. 
Ich halte es für eine ungeschickte Tendenz, einen Mangel an Ver- 
ständnis des deutsch-nationalen Lebens, wenn viele unserer Staatsrechts- 
lehrer — Theoretiker, keine Praktiker — es für einen Gewinn erklären, 
wenn die Zahl der Kleinstaaten sich verringere, und ich bin bemüht, diesem 
zu widersprechen, wo ich kann. Gerade die Zahl der Stimmen im Bundes- 
rate sollte nicht verringert werden. Würde sie das, so kämen wir wieder 
in die Gefahr, welche ich von Anfang an zu bekämpfen gehabt habe, näm- 
lich die, an Stelle des deutsch-nationalen Reiches ein Großpreußen zu be- 
kommen. Es gibt Viele, die gern deutsche Reichsangehörige sein wollen, 
aber nicht Preußen, und ich habe immer gefürchtet, daß sich das Reich nach 
der großpreußischen Seite hin entwickeln würde. 
Die Bundesstaaten, die nur je eine Stimme im Bundesrate führen, 
sind 17, und wenn ich die Hansestädte, die im Vergleich zu den anderen 
eigenartig sind, abziehe, so sind es 14. Und 14 Stimmen im Bundesrate 
sind eine gewichtige Stimmenzahl, wenn sie sich zusammenhalten. 14 Stim- 
men zu den preußischen geben Preußen immer die Majorität; die übrigen 
nach Abzug der preußischen betragen 24. Der Bundesrat ist also gewisser- 
maßen in drei Kategorien geteilt, erstens in die kleinen Staaten mit je 
1 Stimme, Preußen mit 17 Stimmen und die Mittelstaaten mit 24 Stimmen. 
Welches Gewicht liegt also in den kleinen Staaten, und ich wundere mich, 
daß sich in ihnen allen kein Politiker fand, der sich dasselbe zu Nutzen ge- 
macht hätte. 
Alles, was ich Ihnen eben vortrage, ist, wenn Sie wollen, ein Klage- 
lied darüber, daß der nationale Gedanke in den Landtagen und Einzel- 
Regierungen nicht derart gezündet hat, wie ich vor 20 oder 25 Jahren 
gehofft hatte und ich bin leider körperlich nicht mehr kräftig genug, um 
im Reichstage aufzutreten. Ich könnte dort wohl einmal eine Rede halten, 
aber die Gesamtheit der Leistungen, die für mich mit einem Mandat ver- 
knüpft sein würden, bin ich nicht mehr im Stande, körperlich durchzuführen. 
Deshalb entschuldigen Sie mich, wenn ich bei diesem politischen Anlaß, der 
Ihre Begrüßung doch ist, diese meine Klagelieder Ihnen vortrage. (Leb- 
haftes Bravo.) Aber ich hoffe, es wird mit der Zeit anders werden und 
es werden die Bureaukraten, welche Hermann im Teutoburger Walde er- 
schlug, die „Prokuratoren“, wie sie damals genannt wurden, nicht wieder 
die Alleinherrscher werden. 
Zur Zeit besteht noch die Gefahr, daß sie, in unblutiger aber er- 
stickender Weise, die Herrschaft wieder über uns gewinnen werden und daß 
die Errungenschaften des Schwertes, ich will nicht sagen, durch die Feder
	        
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