Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunter Jahrgang. 1893. (34)

Das Ventsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 9.) 89 
der Diplomaten, aber doch durch Bureauwesen, Beamtenherrschaft und das 
träge Zuschauen in Erwartung, daß andere das Nötige schon thun werden, 
zu Grunde gehen. „Die Regierung wird es schon machen!“ Wer ist denn 
„die Regierung?" Ja, wenn die Fürsten es selbst besorgen könnten, sie 
find alle wohlwollende Herren, aber sie sind notwendigerweise angewiesen 
auf ihre Beamten, ihre Minister, Vortragenden und Geheimen Räte. 
Meine Befürchtung und Sorge für die Zukunft ist die, daß das 
nationale Bewußtsein erstickt wird in den Umschlingungen der Boa con- 
strictor der Bureaukratie, die in den letzten Jahren reißende Fortschritte 
gemacht hat. Hier können nur Bundesrat und Reichstag helfen; auch er- 
sterer hat das Recht, sich geltend zu machen. Wenn die staatsmännische 
Einsicht der Bureaukratie nicht ausreicht, so ist gerade den Bundesrats- 
mitgliedern und dem Parlament Gelegenheit gegeben, ihr zu Hilfe zu kom- 
men, so daß die Intelligenzen im Bundesrat und Reichstag zusammenwirken. 
Ich wiederhole, daß ich nicht auf das Reden im Bundesrate selbst, 
sondern auf das Recht der Bundesratsmitglieder, im Reichstage jeder Zeit 
das Wort zu erhalten, das Hauptgewicht lege. Ich meinerseits bin zu alt 
und zu matt, um ins Gefecht zu gehen. Nehmen Sie aber an, daß das 
nicht der Fall wäre, daß ich als Bundesratsgesandter eines der deutschen 
Fürsten, sei es des Ihrigen, in Berlin wäre und ich spräche meine Ueber- 
zeugung auch dann im Bundesrat und im Reichstage aus, wenn sie nicht 
im Einklange mit der Majorität des Bundesrats stände. Würde das nicht 
einen Eindruck machen, weil es von einer Persönlichkeit ausginge, die be- 
kannt und deren Vorleben bekannt ist? Solche Persönlichkeiten sind aber 
doch nicht ausgestorben und es wäre auf diesem Wege auch für die Re- 
gierungen der kleineren Staaten die Möglichkeit gegeben, den gravaminibus 
öffentlichen Ausdruck zu geben, welche amtlich keine Berücksichtigung ge- 
funden haben. 
Die Ergebnisse all dieser Betrachtungen resumiere ich dahin: Gott 
erhalte uns die Reichsverfassung wie sie besteht, und Gott erhalte uns die 
Zahl der Bundesregierungen, die den Bundesrat bilden, damit dieser dem 
Reichstage als vollständig ebenbürtiger und gleichberechtiger Koeffizent un- 
serer Gesetzgebung stets zur Seite steht. 
Dazu ist notwendig, daß Gott auch das Haus Ihres Fürsten erhalte, 
und ich bitte Sie, mit mir dem Wunsche Ausdruck zu geben, daß er Seiner 
Durchlaucht dem Fürsten Woldemar ein langes und gesundes Leben ver- 
leihen möge. 
9. Juli. Fürst Bismarck empfängt 32 aus Kiel zurück- 
kehrende Sekretäre deutscher Handelskammern und hält dabei fol- 
gende Rede: 
„Meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Begrüßung, die für mich 
um so ehrenvoller ist, als Sie so vielen Bezirken unseres Vaterlandes an- 
gehören, und um so erfreulicher, als Sie in Ihrer Gesamtheit den Nähr- 
stand, das heißt den Lebensnerv des deutschen Volkes vertreten, dem ich 
auch von Jugend auf angehört habe und noch angehöre. Ich sehe als den 
Nährstand an die Gesamtheit der produktiven Bevölkerung, also vielleicht 
99 pCt. der deutschen Bevölkerung. „Reine Konsumenten“ gibt es eigent- 
lich nur in Gestalt festbesoldeter Beamten und Honorarempfänger — ich 
kann den Begriff hier nicht sofort erschöpfen. Aber im Herzen hat es mich 
jedesmal gefreut, wenn ich in Ihrem Verzeichnisse den Ausdruck gefunden 
habe: „Handels= und Gewerbekammer". Sie gehören beide notwendig zu- 
sammen, und unter Gewerbe begreife ich die Landwirtschaft, der ich selbst 
angehöre, unbedingt mit. Man kann unterscheiden zwischen dem Gewerbe
	        
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