Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

36 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 29.—31.) 
erhöhte Besteuerung herausschlagen kann, sind immerhin begrenzt, wenn wir 
nicht die Geschäfte an der Börse und die Bedeutung der Börse in Deutsch- 
land paralysieren wollen. Es ist auch hier von der Wehrsteuer gesprochen 
worden, und ich habe eine Aeußerung in der Presse gelesen, die sich darüber 
sehr abfällig äußert, daß die verbündeten Regierungen sich dem Projekt 
einer Wehrsteuer gegenüber an Stelle der vorgeschlagenen Steuern ziemlich 
kühl verhalten haben. Es ist darauf hingewiesen worden — namentlich 
mit Rücksicht auf eine Aeußerung, die ich bei der Etatsdebatte gemacht 
habe —: es würden ja jetzt noch jährlich eine so große Anzahl Leute vom 
Militärdienst frei gemacht, daß es durchaus rentabel und berechtigt wäre, 
diese Leute zu einer Wehrsteuer heranzuziehen. Es ist in dem Artikel, der 
mir vorliegt, darauf hingewiesen worden, daß dies ja nur kleine Fehler 
wären, die diese Leute in ihrer Erwerbsfähigkeit gar nicht beschränken. Ich 
bedauere auch jetzt, meine Ansicht zur Sache nicht ändern zu können. Ich 
frage die Herren zunächst: wird die Erwerbsfähigkeit der Leute nicht be- 
schränkt, die schielen, stammeln, schwerhörig oder taub sind auf einem Ohre, 
einen steifen Finger haben? Wer wird einen Kellner nehmen, der auf einem 
Ohre taub ist, einen Jäger, der schielt, einen Bedienten, der stammelt, einen 
Gesellen, der steife Finger hat? Das ist aber die Konsequenz dieser Fehler, 
daß diese Leute in ihrer Erwerbsfähigkeit wesentlich beschränkt sind und in 
der Regel nur brauchbar zu den untergeordnetsten, einfachsten Arbeiten sind. 
Nun sollen wir von diesen Leuten auch noch eine Steuer erheben. Wir 
könnten von diesen Leuten eine Steuer nur dadurch erheben, daß wir für 
ganz Deutschland eine gleichmäßige Einkommensteuer einführen und von 
denjenigen Leuten, die ein selbständiges Einkommen haben oder deren Eltern 
ein selbständiges Einkommen haben, einen Prozentsatz ihres Einkommens 
als Wehrsteuer erheben. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die über- 
wiegende Anzahl aller dieser Leute den ärmsten Ständen der Bevölkerung 
angehören, auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind, so folgt schon daraus, 
daß eine solche Steuer nur minimale Erträge bringen kann. Ferner aber 
vergegenwärtigen Sie sich: bekanntlich wurde die unterste Stufe der alten 
preußischen Klassensteuer von 1851 deshalb aufgehoben, weil die Schreibe- 
reien, um die kleinen Steuerbeträge von einer zum Teil vagierenden Be- 
völkerung zu erheben, in gar keinem Verhältnis standen zu dem Ertrag der 
Steuern und zu den Exekutionschikanen, die damit verbunden sind. Ganz 
dasselbe Verhältnis wird mit dem überwiegenden Teil der Wehrsteuer- 
pflichtigen eintreten. Wollte man eine Wehrsteuer einführen, so könnte 
man sie nur von solchen Leuten erheben, die vom Militärdienst freigelassen 
sind und ein gewisses Mindesteinkommen haben, also nur von denjenigen 
etwa, die jetzt zur preußischen Einkommensteuer herangezogen werden. Dann 
würde aber der Ertrag der Steuer ein so minimaler sein, daß sie für die 
Frage der Beschaffung neuer Mittel für das Reich absolut keine Rolle 
spielen könnte. Wir haben auch wieder einen alten Bekannten bei der 
ganzen Debatte gefunden: das ist die Liebesgabe, und da diese uns immer 
wieder vorgerückt wird, sind die verbündeten Regierungen in der ihnen 
durchaus nicht sympathischen Zwangslage, auch immer wieder diesen Gedanken 
zu bekämpfen. Der preußische landwirtschaftliche Herr Minister hat im 
Abgeordnetenhause bei der Etatsdebatte bereits darauf hingewiesen, wie es 
für den Stand des landwirtschaftlichen Gewerbes ein bedeutungsvolles 
Zeichen sei, daß die Pacht für die Domänen zurückgegangen sei, und man 
hat ihm darauf entgegnet: das ist ja gar kein Wunder, wenn die Land- 
wirte immerfort selbst sagen: „das ist ein Gewerbe, bei dem man zu Grunde 
geht, da kann kein Mensch mehr daran denken, Domänen zu pachten.“ 
Deshalb wären angeblich die Pachten aus den Domänen zurückgegangen.
	        
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