Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zehnter Jahrgang. 1894. (35)

Das Deutsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Februar 27.) 87 
haben, das Ansehen Deutschlands zu heben. Es ist und bleibt wahr, das 
jetzige Geschlecht steht unter dem Zeichen des Verkehrs, und die Erleichterung 
des Verkehrs, auch über die Grenzen der eigenen Nation hinaus, ist eine 
der Kulturaufgaben, die alle europäischen Nationen zu lösen haben, immer 
mit dem Vorbehalt, daß sie ihre eigenen Interessen dabei nicht schädigen. 
Auch diesem Vorbehalt sind wir gerecht geworden. 
Wenn nun dieser Handelsvertrag nicht die Annahme dieses hohen 
Hauses findet, was würde dann eintreten? Ich glaube, Niemand wird 
glauben, daß man einfach auf den status quo ante mit Rußland zurück- 
kehren werde. Ein großer Staat wie Rußland läßt sich nicht differenzieren, 
und ich halte es für zweifellos, daß der Nichtannahme dieses Handels- 
vertrags die Fortsetzung des Zollkriegs folgen würde. Ich halte es aber 
ebenso für zweifellos, daß selbst unter den Gegnern dieser Vorlage nicht 
ein einziger ist, der die Herbeiführung dieses Zustandes leichten Herzens 
auf sich nehmen würde (Bewegung rechts): ein Zustand, der für unseren 
Handel, für unsere Industrie, für unsere Rhederei verderblich werden würde 
und der unverweigerlich — denn insoweit sind alle Berufstände solidarisch 
miteinander verbunden — auch für einen Teil unserer Landwirtschaft, in 
erster Linie für die unseres Ostens, die erheblichsten Schwierigkeiten und 
Schäden zur Folge haben würde. (Sehr wahr! links.) Wie denkt man 
sich bei einer so langen Grenze, wie wir sie mit Rußland haben, den Zu- 
stand : Was würde die Folge sein? Man sagt: Der Schmuggel. Ja 
wohl, der Schmuggel, den ich gekannt habe in Ostpreußen, würde wieder 
aufkommen, und das würde wiederum zur Folge haben, daß es zu Ge- 
fechten käme, wie wir sie früher gehabt haben an den Grenzen. Ich ent- 
sinne mich der Zeit, wo zu den Aushebungen eine ganze Anzahl Menschen 
mit Schußwunden kamen, die sie beim Schmuggel bekommen hatten, und 
dieser Schmuggel würde wieder zu Grenzstreitigkeiten ernstester Art führen, 
und wohin das weiter führen würde, das brauche ich nicht zu erörtern. 
(Hört, hört! links.) 
Meine Herren, gerade unsere Grenzprovinzen, die durch Jahrzehnte 
hindurch nach einem Hinterland gedürstet haben, würden es unendlich schwer 
empfinden, wenn hinter ihnen eine Mauer errichtet würde, hoch wie die 
chinesische; denn wenn heute noch, trotz des hohen Zolles, ein gewisser Grad 
von Handel getrieben worden ist, so wollen wir nicht glauben, daß das so 
weiter gehen würde. Dieser Handel wird noch betrieben, weil er bestehen- 
den Verhältnissen entspricht. Kundschaft und Kredit ändert sich nicht leicht; 
es hat auch ein Teil unserer Industrie noch heute, um sich den Markt zu 
erhalten, in der Hoffnung, daß der jetzige Zustand aufhören würde, mit 
Verlust gearbeitet. Auf die Dauer aber wäre das nicht möglich. 
Wir sind zu dem jetzigen Vertrag nur unter dem Zusammenwirken 
günstiger Umstände gekommen. So günstig werden sie schwerlich wieder- 
kommen. Kommen aber solche Umstände nicht wieder, dann wird die Lage 
irreparabel. Der Zollkrieg bleibt bestehen. 
Er wird schließlich zur Ehrensache und zu einer Sache der Würde; 
es kann dahin kommen, daß keiner nachgeben will, und es wird dann für 
absehbare Zeit sein Bewenden dabei haben müssen, daß wir auf einer Grenze 
von, ich glaube, 1200 Kilom. hermetisch abgeschlossen sind, auf einer Grenze, 
auf der wir niemals einen sehr lebhaften, aber doch immerhin befriedigenden 
Verkehr hatten. 
Der Grenzschluß würde weiter gehen: er würde auch den Verkehr 
der Menschen erschweren, und ich gebe den darin gewiß besser informierten 
ostpreußischen Herren zur Erwägung, ob der Verkehr russischer Arbeiter, 
den wir jetzt in einem Teile unserer Grenzkreise für dringend notwendig 
 
	        
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