118 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April/ Mai.)
§ 23.
3. wenn der Inhalt einer Druckschrift den Thatbestand einer der in
den §§ 85, 95, 111, 112, 130, 131 Absatz 2, 184, oder 184 a des deutschen
Strafgesepeuche mit Strafe bedrohten Handlungen begründet, in den Fällen
der §§ 111, 112 und 130 Absatz 1 jedoch nur dann, wenn dringende Ge-
fahr besteht, daß bei Verzögerung der Beschlagnahme die Auporderung
oder Anreizung ein Verbrechen oder Vergehen unmittelbar zur Folge
haben werde.
Artikel IV.
Dieses Gesetz tritt mit dem Tage der Verkündung in Kraft.
April/Mai. Die Offentlichkeit über die Umsturzvorlage nach
der Kommissionsfassung.
Die der Umsturzvorlage von Anfang an feindliche Presse — die
freisinnige, antisemitische, sozialistische und viele Wochen= und Monats-
schriften ohne ausgesprochene Parteirichtung wie „Preußische Jahrbücher“,
„Grenzboten“, „Christliche Welt“ — lehnen die Vorlage nach wie vor ab,
auch unter den mittelparteilichen und konservativen Blättern macht sich eine
Opposition gegen mehrere Bestimmungen geltend. Die „Nat. Ztg.“ tadelt
namentlich die Streichung des „Kanzelparagraphen" (130 a) durch die konser-
vativ-klerikale Majorität der Kommission und fordert eine präzisere Fassung
der §§ 111 a und 130,2. Andere Blätter bezeichnen die Vorlage wegen des
§ 166 für unannehmbar; die „Köln. Ztg."“ nennt sie ein Ausnahmegesetz
gegen die führenden Klassen, das allein dem Zentrum zu statten käme:
„Dem Zentrum kam es vor allen Dingen darauf an, die Gelegenheit zu
benutzen, um ein Ausnahmegesetz zum Schutz des Ultramontanismus zuwege
zu bringen. Seinen Höhepunkt erreichte dieser methodische Wahnsinn in
dem Vorschlag, bestimmte philosophische Vorstellungen durch empfindliche
Strafandrohungen gegen kritische Besprechung sicher zu stellen."
Das „Lpzg. Tagebl.“ erklärt, durch die vorliegende Fassung würden
alle katholischen Lehren, die den Protestantismus für eine Irrlehre erklärten,
unter einen besonderen Schutz gestellt.
Die Stellung der Zentrumsparteicharakterisiert dagegen der „Westfäl.
Merkur“: „Zweifellos ist die Kommissionsfassung nach Form und Inhalt
bedeutend besser, als die Regierungsvorlage, und gibt namentlich mehr
Sicherheit für die freie Diskussion ehrlicher Forscher; damit wollen wir
aber nicht behaupten, daß die Kommissionsfassung vollkommen sei und nicht
noch weitere Prüfung und Vervollkommnung gebrauchen könne. Wir werden
sehen, was bei der Einzelberatung im Plenum herauskommt, und behalten
uns inzwischen freie Hand. Den Mittelparteilern muß es recht klar und
eindringlich gemacht werden, daß das Zentrum sich in keiner Weise in der
Zwangslage befindet, ein verstümmeltes oder verschlechtertes Gesetz annehmen
zu müssen, um überhaupt etwas zu stande zu bringen. Möge man über-
haupt den Aberglauben endlich fahren lassen, daß die Kartellpolitiker im
stande wären, eine Flöte zu blasen, nach der wir tanzen müßten."“
Zahlreiche Petitionen und Aufrufe zur Agitation gegen die Vorlage,
insbesondere wegen ihrer ultramontanen Färbung, werden erlassen. So
protestieren dagegen der Münchener Schriftsteller= und Journalistenverein,
eine Anzahl der bekanntesten Gelehrten und Schriftsteller, viele evangelische
Geistliche (im „Volk"), der evangelische Bund und zahlreiche Stadtvertre-
tungen; wie Berlin, Breslau, Königsberg, Stettin u. a., die auf einem
Kongreß in Berlin eine gemeinsame Kundgebung erlassen (5. Mai). Mehreren
Stadtverwaltungen verbietet die Regierung an den Reichstag zu petitionieren.