Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai.) 127 
thanen einen mächtigen Einfluß — und möge ihn behalten —; ist der ge- 
wonnen für die nationale Gemeinschaft, so ist diese Gemeinschaft gesichert; 
ist der mißtrauisch, feindlich oder gekränkt worden, so periklitiert sie. Bis- 
her haben wir überall, in den Dynastien und dem gebildeten Teil der Be- 
völkerung, den freien Willen, als gesamte deutsche Nation zusammen zu 
stehen und zusammen zu halten; den muß man auch erhalten und man 
muß in den Imponderabilien, die den Einzelnen verstimmen können, vor- 
sichtig wirtschaften. Man kann nicht als Gesetzgeber und Regierender mit 
dem Kopf durch die Wand gehen, man muß erst zufühlen; denn etwas 
dunkel ist die Zukunft immer und das Tastgefühl ist immer nötig, das 
Auge trägt nicht weit (Bravo); aber ich hoffe, es wird hier das geschehen, 
was nötig ist. Was uns heutzutage trennt — das sind nicht Stammes- 
verschiedenheiten, nicht dynastische Verschiedenheiten, es sind nur die poli- 
tischen Parteien und die sind dazu gar nicht berechtigt. (Sehr richtig.) 
Jeder Führer in seiner Partei —- sie machen mir den Eindruck wie in der 
ersten christlichen Zeit die Säulenheiligen: jeder stand als Stylit auf seiner 
Säule und sagte: hier müßt ihr herkommen, ich gehe nicht runter — die 
Säule wird gebildet aus folgsamen Gesinnungsgenossen, ich möchte sagen 
hypnotisierten Gesinnungsgenossen des Parteileiters, der sie beherrscht, und 
aus einem Mörtel von Prinzipien, die in ihrer Allgemeinheit auf das 
praktische Leben durchaus unanwendbar find; und diese Art der Einteilung 
in stylitische Herrschergebiete — ich drücke mich deutlicher aus, wenn ich 
age in Herrschergebiete der Parteiführer — dies ist die Gefahr, die uns 
jetzt bedroht. Jeder will seine Ansicht, vielleicht auch eine solche, die er 
gar nicht mehr hat, aber die er ursprünglich als Programm in die Welt 
gesetzt hat, ohne einen Punkt auf dem i aufzugeben, aufrecht erhalten und 
er kämpft darum mit den anderen, und das sind die Streitigkeiten, die wir 
leider in unseren parlamentarischen Versammlungen heute in hervorragender 
Weise erleben. Wie unsere Zukunft praktisch und allerseits befriedigend 
gestaltet werden soll, allerseits befriedigend, das ist eine Frage, die nicht 
im Vordergrunde steht, dazu müßte man zuerst die Verständigung zwischen 
den Parteien, den Fraktionen suchen — gesucht wird sie wohl von ein- 
zelnen Fraktionen; jeder sucht sich die eine oder die andere zu annektieren 
— es gelingt ihr auch, bei den Wahlen namentlich —, aber beherrschend 
für die Aufgabe, die wir zu lösen berufen sind, ist der Gedanke der Ver- 
söhnlichkeit zwischen den Parteien nicht und ich bin stark in Versuchung, 
mit Ihnen ein Pereat auf die politischen Parteien auszubringen. (Heiter- 
keit.) Ich unterlasse es aber (Heiterkeit), ich will Sie als Sachsen lieber 
bitten, mit mir einzustimmen in ein Hoch auf Ihren Monarchen, der einer 
der wenigen Ueberlebenden ist von denen, die mit dem Degen in der Faust 
unsere Einheit haben erkämpfen helfen, und der unter allen Umständen — 
ein seltenes Muster — das Wohl seiner Unterthanen im Auge behalten 
hat, aber auch ein reichstreuer, nationalgesinnter Monarch geblieben ist. 
Se. Majestät König Albert, er lebe hoch, nochmals hoch und wiederum hoch! 
            Mai. Enthüllung über die Stellung des Herzogs Friedrichs 
von Augustenburg zur Annexion Schleswig-Holsteins. Brief an 
König Wilhelm vom 20. Juni 1864. 
 Infolge der Bemerkungen Fürst Bismarcks in seiner Rede an die 
Ostfriesen über den Nordostseekanal und die Verbindung Schleswig-Holsteins 
mit Preußen beschäftigt sich die Presse lebhaft mit der damaligen politischen 
Stellung des Erbprinzen von Augustenburg. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ 
publiziert dazu aus dem Archive von Princkenau folgenden Brief des Herzogs 
an den König Wilhelm: 
 
	        
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