Das Neenische Reich und seine einjelnen Glieder. (Mai 8.) 131
Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst: Meine
Herren, gestatten Sie mir, gleich zu Beginn der Diskussion über § 111
einige allgemeine Bemerkungen zu machen. Ich thue dies, um meine Ansicht
vom allgemeinen Gesichtspunkt aus gleich zusammenzufassen, um bei den
einzelnen Paragraphen Wiederholungen zu vermeiden. Meine Herren,
schon bei der ersten Lesung habe ich Gelegenheit gehabt, darauf hinzu-
weisen, daß das Gesetz, betreffend die Aenderungen und Zusätze zum Straf-
gesetzbuch nicht hervorgegangen ist aus allgemeinen theoretischen Erwägungen,
sondern veranlaßt wurde durch die mehr und mehr sich geltend machende
Ueberzeugung, daß die Grundlagen des religiösen und sittlichen Lebens,
daß die Achtung vor den überkommenen Einrichtungen unserer Staatsordnung,
daß der Gehorsam gegen das Gesetz und das Ansehen der Obrigkeit er-
schüttert sind. Eine Umkehr schien nöthig und Maßregeln wurden gefordert
und erwartet, die zur Wiederherstellung und Festigung jener Grundlagen
führen konnten. Je größer die Besorgnis vor revolutionären und
anarchistischen Ausschreitungen war, um so stärker trat an die Regierung
die Forderung heran, die bürgerliche Gesellschaft zu schpen. Als nun die
verbündeten Regierungen dieser Forderung durch eine Reform des gemeinen
Rechts zu entsprechen unternahmen, konnten sie sich der Hoffnung hingeben,
daß sie der Zustimmung wenigstens des Theils der Bevölkerung sicher sein
würden, der am lautesten nach Schutz und strengeren Strafbestimmungen
gerufen hatte. (Sehr gut! Große Heiterkeit.) Und als bei der ersten
Beratung angesehene Mitglieder dieses hohen Hauses sich im gleichen Sinne
aussprachen, gaben wir uns der Hoffnung hin, daß aus den Beratungen
der Kommission ein Gesetz hervorgehen werde, das dem Zweck der Vorlage
entspräche. Diese Hoffnung ist nur zum Theil in Erfüllung gegangen. (Hört,
hört!) Im Laufe der Kommissionsverhandlungen vermehrten sich zusehends
die Feinde der Vorlage. Anträge wurden in der Kommission gestellt, die
die Außenstehenden erschreckten. (Sehr richtig!) Und wenn diese Anträge
auch nur zum Teil zur Annahme gelangten, so vermehrten sie doch den
ungünstigen Eindruck. Von vielen Seiten erhoben sich Warnungsrufe,
vielleicht auch von solchen, die das Gesetz gar nicht einmal gelesen hatten,
(Sehr richtig!) und es wurde der Reichsregierung und dem Reichstage der
Vorwurf gemacht, daß fie die Geistesfreiheit des deutschen Volkes beschränken
wollten, während doch nur beschimpfende und den öffentlichen Frieden ge-
fährdende Aeußerungen, keineswegs aber wissenschaftliche Kritik unter Strafe
gestellt werden sollen. Ueberhaupt verstehe ich die Herten nicht, die Ent-
rüstungsversammlungen abhalten. (Sehr richtig! Heiterkeit.) Ich habe
eine zu hohe Meinung von dem Volke der Denker, als daß ich es wagen
möchte anzunehmen, es könne die Geistesarbeit eines deutschen Philosophen,
es könne der große, weltbewegende Kampf der Geister und der Fortschritt
der Menschheit gehemmt werden durch gesetzliche Bestimmungen, die öffent-
liche beschimpfende Aeußerungen unter Strafe stellen. (Bewegung.) Vielleicht
hat zu den Besorgnissen und Mißverständnissen auch beigetragen, daß die
Kommission Materien in das Gesetz hineingetragen hat, die demselben
früher in dem gleichem Maße ferngeblieben waren. Während die Vorlage
vor allem die Stärkung der Staatsgewalt und den Schutz der öffentlichen
Ordnung im Auge hatte und deshalb vor Allem die Abschnitte VI und
VII Teil II des Strafgesetzbuchs in den Kreis ihrer Vorschläge zog, er-
strecken sich die Aenderungen der Kommission vorzugsweise auf das Gebiet
der strafbaren Handlungen gegen Religion und Sitte (Abschnitt XI und
XIII des Strafgesetzbuchs), ja sie wollen dieses Gebiet noch erweitern. Da-
gegen find gerade diejenigen Bestimmungen, die auf die Festigung der Staats-
ordnung, der Staatsgewalt bezug haben, ziemlich stiefmütterlich behand-
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