Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 9.) 133 
Abg. v. Kardorff (Rp.): Ich habe namens meiner politischen 
Partei folgende Erklärung zu verlesen: Die deutsche Reichspartei hat als 
den eigentlichen Zweck der dem Reichstage zugegangenen Vorlage den Schutz 
der bürgerlichen Gesellschaft gegen die auf den Umsturz der bestehenden 
Staats= und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen der sozialdemo- 
kratischen Partei angesehen. Wir waren von vornherein nicht darüber 
zweifelhaft, daß die von dem früheren Reichskanzler vorbereitete Vorlage 
den Anforderungen nicht entsprach, welche wir im allgemeinen öffentlichen 
Interesse an ein solches Gesetz stellen zu müssen glaubten; namentlich ver- 
mißten wir Bestimmungen, durch welche allen dem Umsturz abgeneigten 
und ein friedliches Zusammenwirken mit ihren Arbeitgebern wünschenden 
Arbeitern gegen die Willkür und den Despotismus der sozialdemokratischen 
Führer ein Schutz gewährt und die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegen 
frivole Ausstände geschützt und Exzesse der sozialdemokratischen und anarchi- 
stischen Partei verhindert würden. Die Aenderungen der Kommission hätten 
den Zweck der Vorlage verdunkelt, daher werde die Reichspartei mit Aus- 
nahme des Militärparagraphen gegen die Vorlage stimmen. Abg. v. Enec- 
cerus (nl.): Die Vorlage sei für seine Partei unannehmbar, ebenso der 
Antrag Barth; ein Teil seiner Partei werde für den konservativen Antrag 
stimmen, die Minderheit gegen die ganze Vorlage. Abg. v. Wolszlegier: 
(Pole) gegen die Vorlage. Die erfolglose Aufforderung zu einem Ver- 
brechen könne bestraft werden, aber nicht die Anpreisung eines Verbrechens. 
Abg. Reindl (Z.): Neben der staatlichen Ordnung müßte auch Religion 
und Sitte geschützt werden. Zu § 111 sehen wir weder in dem Antrage 
Barth, noch in dem Antrage der Konservativen Verbesserungen gegenüber 
der Regierungsvorlage; wir werden daher in der zweiten Lesung für die 
Kommissionsbeschlüsse stimmen. Bezüglich der ganzen Vorlage bemerken 
wir, daß auch uns die Beschlüsse der Kommission nicht überall gefallen 
und genügen. (Große Heiterkeit.) Meine Freunde werden auf die ein- 
zelnen Bestimmungen eingehen, sich aber die Schlußabstimmung ausdrücklich 
vorbehalten. (Große Heiterkeit.) Abg. Munckel (frs. Vp.): Die freifinnige 
Volkspartei werde gegen die Vorlage und alle Abänderungsanträge stimmen. 
Abg. Zimmermann (Reformp.): Die Antisemiten würden gegen die Vor- 
lage stimmen, durch die man der Sozialdemokratie keinen Abbruch thun 
werde. 
9. Mai. (Reichstag.) Fortsetzung der Beratung über die 
Umsturzvorlage. Reden Schönstedts und Köllers. 
Neu eingegangen ist ein Antrag Gröber (3.): In § 111 hinter 
den Worten „sofern es sich um die Aufforderung zu einem Verbrechen“ 
einzuschalten: „zum thätlichen Angriff gegen einen Beamten während der 
rechtmäßigen Ausübung seines Amtes."“ 
Justizminister Schönstedt erklärt, die Regierung lege auf die Auf- 
nahme der §§ 113, 114 in das Gesetz das größte Gewicht, und es werde 
eventuell das Schicksal der Vorlage hiervon abhängen. Diese Paragraphen 
repräsentierten am besten die Absicht der verbündeten Regierungen, die 
Staatsgewalt zu stärken. Er hege die Hoffnung, daß der Antrag v. Levetzow 
zur Annahme gelange, daß namentlich auch das Zentrum dafür stimmen 
werde. Minister des Innern v Köller: Wenn der Herr Abg. Lenzmann 
sagte, die Regierung trüge die Verantwortung für diese Vorlage, und ge- 
wissermaßen den Regierungen damit hat einen Vorwurf machen wollen, so 
will ich ihm darauf erwidern, daß die verbündeten Regierungen jederzeit die 
Verantwortung für ihre Handlungen tragen werden, und ob Sie die Gründe 
richtig finden, welche die verbündeten Regierungen leiten, oder nicht, das
	        
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