Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

134 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 10.) 
wird den verbündeten Regierungen im großen und ganzen ziemlich gleich- 
giltig sein. (Lebhafter Widerspruch und große Unruhe links.) Wir be- 
dürfen Ihrer nur soweit, als Sie den Gesetzen zuzustimmen haben, die vor- 
gelegt werden, oder die Gelder zu bewilligen haben. Sie mögen Ihre 
Zustimmung zu Gesetzen verweigern, — dann werden es keine Gesetze; ob 
die verbündeten Regierungen aber überhaupt Gesetzentwürfe vorlegen oder 
nicht, haben diese zu ermessen. Die Sozialdemokratie sei keineswegs so 
harmlos, wie sie die Freissinnigen darstellen. Der Minister führt eine An- 
zahl Aeußerungen sozialdemokratischer Redner in Volksversammlungen an, 
die Aufreizungen zur Revolution oder Verherrlichung der Revolutionäre 
enthalten, z. B. soll eine Majestätsbeleidigung und Diebstahl nicht für eine 
ehrlose Handlung gelten. Die sozialistische Presse schüre grundsätzlich die 
Unzufriedenheit, so erkläre der „Vorwärts" die Zufriedenheit und Be- 
dürfnislosigkeit für das erbärmlichste aller Laster, ähnlich die „Rache"“, 
der „Sozialist. Akademiker", die „Volkswacht“. Die christlichen 
Lehren endlich würden durch die sozialdemokratische „Bibel in der Westen- 
tasche“ aufs gemeinste parodiert. Solchen Ausschreitungen gegenüber sei 
die Vorlage notwendig gewesen. Abg. Bebel (Soz.): Solche Gesetzes- 
bestimmungen würden der Sozialdemokratie keinen Eintrag thun. Die 
Vorlage sei gänzlich unmotiviert, so betrugen die Verurteilungen wegen 
der hier in Frage stehenden Vergehen jährlich rund 70 von 425 000 Ver- 
urteilungen. Die Sozialdemokratie habe nie Bestrebungen zur Revolution 
bekundet; alle Revolutionen seit der englischen Revolution seien bürger- 
lichen Ursprungs. Die Zitate Herrn v. Köllers seien teils harmlos, teils 
seien sie anarchistisch und nicht sozialistisch. Wenn eine Partei sich die 
Partei der Menschenliebe nennen kann, so ist es die Sozialdemokratie, 
welche die menschheitlichen Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die 
sich mit dem Ideal des Christentums decken. verwirklichen will. Sie (rechts) 
haben ja längst aufgehört, Ideale zu besitzen; sie haben kein anderes Ideal 
mehr als den nackten Materialismus, den Geldbeutel zu füllen auf Kosten 
der Aermsten. Abg. Schall (kons.) wendet sich gegen die Angriffe der 
Sozialdemokratie auf das Christentum. Er wolle einen Schutz der Religion, 
aber keine Einengung der freien Forschung. Das Duell sei bedauerlich, 
aber noch nicht zu beseitigen, es müße aber eingeschränkt werden. 
10. Mai. (Reichstag.) Umsturzvorlage. Gröbers Rede. 
Beginn der Abstimmung. 
Abg. Gröber (Z.): Es sei bereits der Verdacht rege geworden, daß 
die Regierungsvorlage nicht so ernst gemeint sei und nur den Titel ab- 
geben solle für ein kommendes neues Sozialistengesetz. Ein solches sei aber 
zur Zeit unmöglich, da der Reichstag sich dagegen erkärt und selbst auf 
den Weg des gemeinen Rechts verwiesen habe. Es werde weiter gearg- 
wöhnt, daß eine Ablehnung dieses Gesetzes nicht unwillkommen wäre, um 
an hoher Stelle zu beweisen, daß der Weg des gemeinen Rechts ungangbar 
wäre. Diese Behauptung, soweit sie etwa sich auf den Herrn Reichskanzler 
beziehe, müsse er energisch zurückweisen; dieser werde gewiß keine Schein- 
manöver aufführen. Ebenso wenig halte er es für wahrscheinlich, daß ein 
anderer Staatsmann etwa weitergehende Pläne hege und sich darin mit 
dem Chef der Reichspolitik in Widerspruch befinde. Die gestrigen Reden 
der Regierungsvertreter halte er allerdings nicht für geeignet, solche Zweifel 
zu zerstreuen. Gefährlicher als die anarchistischen Schriftsteller seien die 
Lehren der liberalen Professoren. Ferner polemisiert der Redner gegen 
Herrn v. Köller, der aus dem Reichstag einen Gesetzgebungsautomat nachen 
wolle. Justizminister Schönstedt erwidert, der Vorredner habe ange-
	        
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