Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Nlien. (Dezember 2.—16.) 271 
Vertrauen, daß sich dieser glückliche Erfolg erhalte, knüpfen sich unsere Hoff- 
nungen, daß das Einvernehmen der Mächte sich nicht als unwirksam für 
die Verbesserung der Lage im Orient erweise. „Wenn die Lage in Europa 
dank dem mehr als jemals bekräftigten Einvernehmen der sechs Mächte eine 
gute ist, so ist sie zwischen der ottomanischen Regierung und den Völkern 
der Türkei eine gedrückte. Die Pforte würde einen Irrtum begehen, wenn 
sie glaubt, die Lage könne durch diplomatische Diskussion über die Vorgänge 
gelöst werden."“ 
2. Dezember. (Deputiertenkammer.) Di Rudini gegen 
Crispi. 
In einer ausführlichen Kritik der Regierungspolitik erklärt Di Ru- 
dini, er billige die auswärtige Politik und die Haltung Italiens in der 
orientalischen Frage. Er könne aber der gegenwärtigen Regierung die Aus- 
nahmegesetze nicht mehr bewilligen, mißbillige es, daß Crispi keinen Unter- 
schied zwischen Sozialisten und Anarchisten mache, und beklage, daß das 
Versprechen der Amnestie für sizilianische Verurteilte nicht eingehalten worden 
sei. Die Haltung des Kabinetts gegenüber den Sozialisten habe die Sym- 
pathie der Bevölkerung für letztere nur erhöht. Man müsse das Verbrechen 
unterdrücken, aber nicht die Gedankenfreiheit verfolgen. Zur Kirchenpolitik 
erklärt er, daß die Frage in Italien mit seiner völlig katholischen Bevöl- 
kerung nie eine religiöse sein könne, noch gewesen sei. Der Laienstaat müsse 
der Kirche die größte Freiheit lassen, das Ueberhandnehmen der klerikalen 
Partei als politische Partei könne nur verhindert werden dadurch, daß die 
Regierung eine gesunde Wirtschaftspolitik treibe und sich hiermit die Zu- 
stimmung des Volkes erwerbe. An der Finanzpolitik der gegenwärtigen 
Regierung tadelt er gerade den Mangel an Rücksicht auf das wirtschaftliche 
Gedeihen, während er im übrigen Sonninos Verdienste anerkennt. Die 
militärischen Ersparungsmaßregeln der jetzigen Regierung tadelt er als zer- 
störend für die Heeresorganisation: man müsse den Mut haben, entweder 
gleich den übrigen Mächten die Friedensstärke zu erhöhen oder das Heer 
endgültig einzuschränken, aber der gegenwärtige große Unterschied zwischen 
Friedens= und Kriegsstärke sei von Uebel. Bezüglich der Kolonialpolitik 
befürchtet er, daß man zu bedeutend höhern Opfern gedrängt werde, als 
vorgesehen sei. Nachdem sich Crispi verteidigt hat, spricht ihm die Kammer 
ihr Vertrauen aus. 
13. Dezember. Die Deputiertenkammer geht über alle 
Anträge, Giolitti vor Gericht zu stellen, gegen dessen Widerspruch 
zur Tagesordnung über (val. Übersicht). 
14./16. Dezember. (Deputiertenkammer.) Interpellationen 
über Afrika. 
Infolge der Niederlage Tosellis (s. Afrika) bringt die Opposition 
mehrere Interpellationen ein. Auf ihre Angriffe erwidert Crispi, daß 
die Unternehmung in Afrika nicht sein Werk sei, erinnert ferner an die 
Besetzung von Assab und Massauah, um darzuthun, daß man damals kein 
bestimmtes Ziel hatte; er hätte gewünscht, daß die Hoffnungen Italiens 
sich anderswohin lenkten, er habe dies entschieden im Jahre 1882 erklärt 
gelegentlich der Aufforderung Englands, mit ihm gemeinschaftlich zu han- 
deln, um den Aufstand Arabi Paschas zu ersticken. Indessen seit 1885 
mußte man anerkennen, daß, da die Fahne nun einmal in Assab und Mas- 
sauah aufgepflanzt war, man dableiben und die Position verbessern mußte. 
  
 
	        
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