Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Mebersicht der volitischen Entwickelung des Jahres 1895. 329 
erlitten die Liberalen manche Verluste; mehrere Führer legten ihre 
Mandate nieder, und bei den Nachwahlen und Landtagswahlen ver- 
loren fie mehrere Sitze an die Nationalen. Ebenso ging die Wiener 
Gemeindeverwaltung in antisemitische Hände über, ohne daß diese 
freilich die Früchte ihres Sieges geerntet hätten, da die Krone die 
Bestätigung des antisemitischen Bürgermeisters Lueger verweigerte 
und den Gemeinderat zweimal auflöste (S. 230). Was sich aus 
diesem Chaos der deutschen Parteien entwickeln wird, ist ganz un- 
übersehbar; eine Einigung zwischen den verschiedenen Gruppen der 
Liberalen, Nationalen und Antisemiten ist um so weniger wahr- 
scheinlich, da die Liberalen eine zwar reservierte aber keineswegs 
feindliche Stellung gegen die Regierung beobachten, die andern ihr 
aber unter Luegers Führung in der schärfsten Opposition gegen- 
überstehen. 
Die parlamentarischen Resultate der Koalitionsregierung find 
gering. Die Zivilprozeßordnung wurde zwar durchgebracht und 
die Steuerreform in den Hauptzügen fertiggestellt, aber ihre Aus- 
führung war noch nicht gesichert, als das Kabinett zusammenbrach. 
Die Wahlreform ist ebenfalls nicht vollendet worden; der Entwurf, 
den das Ministerium kurz vor seinem Sturz veröffentlichte, fand 
nirgends Beifall. Vielleicht hat auch diese Frage zur Sprengung 
der Koalition beigetragen: es scheint nicht ausgeschlossen, daß Graf 
Hohenwart, der Hauptschöpfer des Entwurfs, in der Cillifrage des- 
halb kein Nachgeben gegen die Deutschen kannte, weil er von ihnen 
nicht auf Billigung seines Wahlgesetzes zu rechnen hatte. 
Ungarn, das das Jahr 1894 mit einer Ministerkrise schloß, Ungarn. 
gab sich im Januar eine neue Regierung, die sich prinzipiell von 
der früheren nicht unterschied. Ihre Hauptaufgabe war die Er- 
ledigung der noch übrigen kirchenpolitischen Vorlagen, und in der 
That gelang es ihr mit Hilfe der Krone den Widerstand des 
Magnatenhauses zu brechen und die kirchenpolitische Gesetzgebung 
abzuschließen (S. 229). Welche Rolle der ungarische Minister- 
präsident beim Abschied Kalnokys spielte, haben wir bereits gesehen; 
es ist kein Zweifel, daß nach der Niederlage Kalnokys Baron Banffy, 
der nur als Verlegenheitsminister von geringer persönlicher Bedeu- 
tung gegolten hatte, in Ungarn weit höheres Ansehen genoß, als
	        
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