Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

98 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 2.) 
staats zu gefährden oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben oder für 
das Eigentum herbeizuführen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem 
Monat, gegen die Rädelsführer Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. 
Ist infolge des Arbeiterausstandes oder der Arbeiteraussperrung eine 
Gefährdung der Sicherheit des Reichs oder eines Bundesstaats eingetreten 
oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben oder das Eigentum herbei- 
geführt worden, so ist auf Zuchthaus bis zu drei Jahren, gegen die Rädels- 
führer auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu erkennen. 
Sind in den Fällen des Abs. 2 mildernde Umstände vorhanden, so 
tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten, für die Rädelsführer Ge- 
fängnisstrafe nicht unter einem Jahr ein. 
§ 9. Soweit nach diesem Gesetz eine gegen einen Arbeitgeber ge- 
richtete Handlung mit Strafe bedroht ist, findet die Strafvorschrift auch 
dann Anwendung, wenn die Handlung gegen einen Vertreter des Arbeit- 
gebers gerichtet ist. 
§ 10. Die Vorschriften dieses Gesetzes finden Anwendung 
1. auf Arbeits- oder Dienstverhältnisse, die unter den § 152 der Gewerbe- 
ordnung fallen, 
2. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in solchen Reichs-, Staats- 
oder Kommunalbetrieben, die der Landesverteidigung, der öffentlichen 
Sicherheit, dem öffentlichen Verkehr oder der öffentlichen Gesundheits- 
pflege dienen, 
3. auf alle Arbeits- oder Dienstverhältnisse in Eisenbahnunternehmungen. 
§ 11. Der § 153 der Gewerbeordnung wird aufgehoben.“ 
Dieser Entwurf wird von der sozialdemokratischen und freisinnigen 
Presse gewöhnlich als „Zuchthausvorlage" bezeichnet und rundweg abgelehnt, 
da er das Koalitionsrecht aufhebe. Dagegen begrüßen den Entwurf die 
„Berliner Neuesten Nachrichten“, „Staatsbürger-Zeitung“, „Hamburger 
Nachrichten"“, „Kreuz-Zeitung", „Allgemeine Zeitung" u. a. Viele national- 
liberalen Blätter, wie „National-Zeitung", äußern Bedenken, weisen aber 
eine Diskussion nicht ab. Die Zentrumspresse bekämpft den Entwurf im 
allgemeinen wegen seiner Einschränkung des Koalitionsrechts. 
In den folgenden Tagen finden viele Volksversammlungen statt, die 
gegen die Vorlage protestieren; so in Berlin am 7. Juni 19 unter sozial- 
demokratischer Leitung. — Der Ausschuß des Berliner Gewerbegerichts 
(Arbeiter und Arbeitgeber) spricht sich gegen den Entwurf aus, ebenso die 
christlichen Arbeitervereine. 
2. Juni. (Kiel.) Der Kaiser hält beim Stapellauf des 
Linienschiffes „Kaiser Wilhelm der Große“ folgende Taufrede: 
„Aus Erz gefügt, in starrer, lebloser Form steht das Schiff vor 
uns, bereit zum Ablauf. Seine Linien sind kaum dem Schönheitsgefühl 
des Beschauers entsprechend; und doch, im Augenblick, wo es in die See 
hinabrauscht, wo es sich mit der Tiefe vermählt, gewinnt es Leben und 
Lebenskraft, sobald das Meer mit seinem unendlichen Zauber, dem niemand 
widerstehen kann, dieses Schiff berührt hat, so daß es dereinst, bewohnt 
von Hunderten tapferer Seeleute, geführt von tüchtigen Offizieren, stolz 
auf dem Meere schwimmen wird, ein Stück großer deutscher Wehrkraft, 
dessen unser Vaterland so dringend und notwendig bedarf. Den Gedanken 
bewährter Geistesarbeiter, von denen einer, gleich dem Soldaten auf dem 
Schlachtfelde, hier sein Leben endete, entsprungen und in Form gebracht 
durch die Hammerschläge von Hunderten deutscher fleißiger Männer, soll 
dieser Koloß, ehe er sich mit der Tiefe vermählt, seinen Namen erhalten. 
Wir denken bei dem Namen, den er erhalten wird, an den großen Herrn,
	        
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