Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

                Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 15.)     105
 
aus einem überwiegenden Agrikulturstaate allmählich zu einem gemischten 
landwirtschaftlich-industriellen Staate übergeführt hat mit allen seinen 
Folgerungen und Konsequenzen. Landwirtschaft und Industrie sind gegen- 
seitig auf einander angewiesen. Beide Gewerbe wissen, daß sie einander 
bedürfen. Ich bin der festen Ueberzeugung, daß der geforderte Kanal, wie 
jede Hebung der Verkehrsmittel nicht nur der Industrie, sondern auch der 
Landwirtschaft zum Nutzen gereichen wird. Aber selbst wenn Sie nur an- 
nehmen, daß er dem landwirtschaftlichen Gewerbe nicht schaden wird, müßte 
eine Verständigung - so meine ich - auch auf dieser Basis möglich sein. 
Die Staatsregierung hat wiederholt bewiesen, daß sie gewillt ist, der Land- 
wirtschaft, so weit es in ihren Kräften steht, zu helfen, und sie hat zu dem 
Behuf die Aufwendung bedeutender Staatsmittel nicht gescheut. Wir 
hätten Ihnen daher selbstverständlich auch die gegenwärtige Vorlage nicht 
unterbreitet, wenn wir nicht voraussähen, daß auch die Landwirtschaft 
neben der Industrie in der Lage sein wird, Vorteile aus der neuen Ver- 
bindung des Ostens mit dem Westen zu ziehen. Es fragt sich nun, soll 
diese verbesserte Verbindung ausschließlich durch den Bau von Schienen- 
wegen herbeigeführt werden oder soll das Kanalsystem vervollständigt werden? 
Ich glaube, wir können und müssen das eine thun und das andere nicht 
lassen. Auch wenn der Mittellandkanal gebaut wird, wird in der Arbeit 
an weiterer Hebung der Leistungsfähigkeit unserer Eisenbahnen nicht inne- 
gehalten werden dürfen. Wir haben aber durch den Bau des Kanals die 
Möglichkeit, an den Ausbau der Eisenbahnen und die Beschaffung des 
Eisenbahnmaterials mit mehr Ruhe heranzugehen. Was die finanzielle 
Seite der Frage betrifft, so hat in der That die bedeutende Summe, die 
der Bau des Kanals in Anspruch nehmen wird, im ersten Augenblick etwas 
Erschreckendes. Bei näherer Prüfung und insbesondere, wenn man in 
Betracht zieht, daß die Provinzen ungefähr die Hälfte von dem leisten, 
was der Staat leistet, verlieren sich aber die Bedenken. Und wenn der 
Herr Finanzminister, dem man Verschwendungssucht nicht vorwerfen und 
große Vorsicht nicht absprechen kann, erklärt, die Kosten seien nicht so 
exorbitante, daß sie eine Ablehnung motivieren könnten, so glaube ich, 
können wir uns in dieser Beziehung beruhigen. Zum Schlusse fasse ich 
das Gesagte in einer Erklärung zusammen, welche ich im Namen der Staats- 
regierung abgebe: Die Staatsregierung steht nach wie vor auf dem Stand- 
punkte, daß die Herstellung eines die Flußläufe des Landes verbindenden 
Kanals vom Rhein bis zur Elbe mit den sich anschließenden Seitenver- 
bindungen dringend geboten ist. Der Rhein-Elbekanal ist eine notwendige 
Ergänzung der Verkehrsstraßen der Monarchie; er ist ein allen Wirtschafts- 
zweigen Segen bringendes, die allgemeine Wohlfahrt hebendes Kulturwerk 
und er erhöht die Wehrfähigkeit des gesamten deutschen Vaterlandes. Bei 
dem gewaltigen Zunehmen des Verkehrs in dem rheinisch-westfälischen 
Industriegebiete gewährt der Kanal den Eisenbahnbetrieben die wirksamste 
Entlastung. In dieser Auffassung ist die Staatsregierung durch die Ver- 
handlungen der Kommission des hohen Hauses wesentlich bestärkt worden. 
Die Staatsregierung verkennt nicht, daß die Ausführung dieses Werkes in 
den Produktions- und Konsumtionsbedingungen Verschiebungen hervor- 
rufen wird, welche mit nachteiligen Folgen für einzelne Landesteile ver- 
knüpft sein können. Wir behalten uns vor, auf diese Frage im Laufe der 
Debatte zurückzukommen. Indessen trägt die Staatsregierung kein Be- 
denken, schon jetzt im allgemeinen zu erklären, daß sie nach Kräften bemüht 
sein wird, zweckdienliche vorbeugende Maßnahmen zur Verhütung dieser 
Nachteile rechtzeitig in die Wege zu leiten und auch demnächst in den 
Fällen, wo dies notwendig erscheinen wird, auf dem Gebiete der Eisenbahn-
	        
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