Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 5. 6.) 117 
für die Vorlage eines Gesetzes „zum Schutze des gewerblichen Arbeitsver- 
hältnisses“ an den Reichstag eingetreten ist. Das Herrenhaus erwartet, 
daß die kgl. Staatsregierung an dem im vorgenannten Gesetzentwurfe ein- 
genommenen Standpunkte unentwegt festhalten wird.“ 
Graf Mirbach: Die Streiks verdankt man wesentlich der Sozial- 
demokratie; sie führt sie durch Boykotts und körperlichen Zwang und durch 
Gewährung von Geldmitteln durch. Das geschieht nicht zum Vorteil der 
Arbeiter. Nur ein prosperierendes Gewerbe kann seine Arbeiter auf die 
Dauer hoch bezahlen. Wenn das richtig ist, komme ich zu der Schluß- 
folgerung: Nichts ist schädlicher als lang anhaltende Streiks. Es handelt 
sich hier um das Wehe der Arbeiter, was die Sozialdemokratie in Händen 
hat. Es muß mit Naturnotwendigkeit das Ergebnis der Streiks sein, daß 
die Arbeiter in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Streiks haben die 
Koalitionen der Arbeitgeber erst herbeigeführt. Die Arbeitgeber werden 
gezwungen, auf die Streiks Rücksicht zu nehmen, dadurch wird das Gewerbe 
belastet. Die Sozialdemokratie will die bestehende Staats- und Gesellschafts- 
ordnung umstürzen. Ueber die großen Massen herrscht man nur durch 
weitgehende Unzufriedenheit, und die Erreger, die Bazillen der Unzufrieden- 
heit, sind Not und Jammer, die hereinbrechen müssen über die Arbeiter bei 
einem Kampfe zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. 
Prof. Schmoller: Ich vermisse die kleinen Reformen, die neben 
den Strafbestimmungen hergehen müßten. Es wäre zwischen den Konser- 
vativen, Nationalliberalen und dem Zentrum nicht so schwer, einen Mittel- 
weg zu finden, wenn man denen, welche die Arbeitervereine anerkennen 
wollen, einige kleine Konzessionen gemacht hätte. Man hat nur eine 
Strafgesetzgebung vorgelegt, die von den Bundesregierungen gewiß nicht 
als privilegium odiosum gemeint war, die aber notwendig unter einen 
falschen Gesichtspunkt gekommen ist. Damit muß man bei den Massen, 
bei den Millionen rechnen. Wir haben unter 12—14 Millionen Arbeitern 
nur 2 Millionen Sozialdemokraten. Aber auch die übrigen Arbeiter haben 
in der Vorlage ein privilegium odiosum gefunden, vielleicht weil falsch 
agitiert wurde. Ueberall entwickelt sich das Vereinswesen, Zentralverbände 
der Industriellen, Landwirtschaftskammern und Kartelle werden von der 
Regierung geschützt. Ich bin dafür, aber wenn überall sonst organisiert 
wird, so darf es den Arbeitern nicht erschwert werden. Das ist aber jetzt 
der Fall. Das ist der dunkle Punkt, der die Mißstimmung erhält, die so 
stark ist, daß sie die Mehrheit des deutschen Volkes und Reichstages für 
sich hat. In monarchischen Staaten ist es Aufgabe der Regierung, das 
Bewußtsein nach allen Seiten aufrecht zu erhalten, daß sie gleiches Licht 
und gleiche Sonne gewähren will. Es ist aber der Schein nicht ver- 
mieden worden, als ob die Regierung die Arbeitgeber besser behandelt als 
die Arbeiter. 
Der Antrag wird mit 72 gegen 22 Stimmen angenommen. 
5. Juli. (Württemberg.) Die Kammer der Ageordneten 
genehmigt gegen eine sozialdemokratische Stimme den Gesetzentwurf 
über den Bau von Nebenbahnen. 
6. Juli. Depeschenwechsel des Kaisers mit Präsident Loubet. 
(S. Schweden und Norwegen.) 
6. Juli. (Baden.) Die evangelische Generalsynode für das 
Großherzogtum Baden spricht einstimmig ihre Freude über die 
evangelische Bewegung in Oesterreich aus.
	        
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