Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okltober 10./14.) 149
scheinende Presse sei gewachsen. Die Jahreseinnahme derselben betrage bei
302 302 Abonnenten (42 302 mehr als im Vorjahr) an Abonnementsgeldern
2 257204 M, an Inseratenbeträgen 1 127 709 M. Die Gesamteinnahmen
der ganzen Tagespresse betragen 2 739 561 M, das heißt 461 594 M mehr
als im Vorjahr. Die Gesamtabonnentenzahl betrage rund 400 000, die
Zunahme zirka 21 000, davon entfallen auf die täglich erscheinende Presse
16 000, die dreimal wöchentlich erscheinenden Blätter 2000, die einmal er-
scheinenden 3000 neugewonnene Abonnenten.
Die Verhandlungen drehen sich vornehmlich um die Differenzen
innerhalb der Partei. Lebhafte Diskussionen in der Presse hat namentlich
erregt ein Buch von Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialis-
mus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. (Vgl. Lorenz, Preuß. Jahrb.
Bd. 96 und Diehl, Conradsche Jahrbücher für Nat.Oek. und Stat. 1899.)
Bernstein greift hierin die Prinzipien des Marxismus, die materialistische
Geschichtsauffassung und die Taktik der Sozialdemokratie scharf an. Bern-
stein stehen einige sozialdemokratische Abgeordnete wie Schippel, Heine.
v. Vollmar nahe, die wie er die Notwendigkeit einer praktischen Mitarbeit
an der Sozialpolitik betonen, um die Lage der Arbeiter schon während des
Klassenstaates zu verbessern. Andere Führer, wie Liebknecht und Bebel,
sehen darin die Gefahr einer Verschleierung des revolutionären Charakters
der Partei und befürchten ihre Verflachung zu einer bürgerlich-radikalen
Reformpartei. Ferner hat viele Diskussionen eine Aeußerung Schippels
erregt, der die Notwendigkeit einer Flotten- und Kolonialpolitik theoretisch
anerkannt, aber die Möglichkeit der Beteiligung für die Sozialdemokratie
geleugnet hat. Der Parteitag soll die Stellung der Partei zu diesen Fragen
fixieren.
Abg. Bebel hält am 10. Oktober ein sechsstündiges Referat über
diese Fragen und greift Bernstein und seine Gesinnungsgenossen auf das
schärfste an. Er verlangt, daß das „Endziel“, die Beseitigung des Klassen-
staates, in den Vordergrund gestellt wird. In der überaus lebhaften
Debatte erfährt er bald Zustimmung bald Angriffe, Abg. Auer u. a. ver-
höhnen Bebels wiederholte Prophezeiung, daß der „Kladderadatsch“ in
absehbarer Frist eintreten müsse. Alle betonen, daß über das Endziel
Einigkeit herrsche, aber daß in der Taktik Meinungsverschiedenheiten be-
ständen.
Schließlich wird folgende Resolution mit 216 gegen 21 Stimmen
angenommen, für die sich auch Auer und v. Vollmar erklären: „Die bis-
herige Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gibt der Partei keine Ver-
anlassung, ihre Grundanschauungen über dieselbe aufzuheben oder zu ändern.
Die Partei steht nach wie vor auf dem Boden des Klassenkampfes, wonach
die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein kann, und be-
trachtet es demzufolge als geschichtliche Aufgabe der Arbeiterklasse, die
politische Macht zu erobern, um mit Hilfe derselben durch Vergesellschaftung
der Produktionsmittel und Einführung der sozialistischen Produktions- und
Austauschweise die größtmögliche Wohlfahrt aller zu begründen. Um dieses
Ziel zu erreichen, benutzt die Partei jedes mit ihren Grundanschauungen
vereinbare Mittel, das ihr Erfolg verspricht. Ohne sich über das Wesen
und den Charakter der bürgerlichen Parteien als Vertreter und Verfechter
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu täuschen, lehnt sie ein
Zusammengehen mit solchen von Fall zu Fall nicht ab, sobald es sich um
Stärkung der Partei bei Wahlen, oder um Erweiterung der politischen
Rechte und Freiheiten des Volkes, oder um eine ernsthafte Verbesserung
der sozialen Lage der Arbeiterklasse und der Förderung von Kulturaufgaben,
oder um Bekämpfung arbeiter- und volksfeindlicher Bestrebungen handelt.