Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oktober 18.) 151
Vorlage ablehnen, obwohl sie von den sozialdemokratischen Verbänden zu
leiden haben und ihren Terrorismus genug empfinden. . . Es könne die
Zeit kommen, in der Deutschland um seine Existenz kämpfen muß, dann
müßten wir uns auf alle Klassen der Bevölkerung stützen können, auch auf
die Arbeiterklassen. Ihnen dürfe die Liebe zum Reich nicht geraubt sein
durch die Thatsache oder das Gefühl einer arbeiterfeindlichen Klassengesetz-
gebung. Jene großindustrielle Agitation, die heute die Arbeitswilligen
und ihren Schutz in den Vordergrund schiebe, verfolge andere Ziele; es sei
die Pflege eigener Interessen gemeint, die Zertrümmerung der Arbeiter-
organisation und dadurch die Erweiterung der eigenen Macht. Es sei
Heuchelei, wenn man dabei immer wieder in den Vordergrund schiebe, ledig-
lich die armen Arbeitswilligen sollten geschützt werden. Diese Agitation,
welche den ganzen Sommer nicht aufgehört habe und sich auch in einer
persönlichen Hetze gegen ihn (Redner) gefalle, finde durchaus nicht überall
Anklang.
Diese Rede wird lebhaft besprochen und der Redner von den Be-
fürwortern der Vorlage angegriffen. Die Frage wird aufgeworfen, wie
viele Abgeordnete in der nationalliberalen Fraktion seinen Standpunkt
teilten, und ob die Freunde oder Gegner der Vorlage aus der Partei aus-
scheiden müßten.
18. Oktober. (Hamburg.) Beim Stapellauf des Linien-
schiffes „Kaiser Karl der Große"“ bringt der Kaiser folgenden
Trinkspruch über die Notwendigkeit einer starken Flotte aus:
„Es gereicht Mir zur besonderen Freude, an dem heutigen histo-
rischen Gedenktage wieder in Ihrer Mitte weilen zu können. Ich fühle Mich
gleichsam erfrischt und neu gestärkt, so oft Ich von den Wogen des frisch
sprudelnden Lebens einer Hansastadt umspült werde. Es ist ein feierlicher
Akt, dem wir soeben beigewohnt, als wir ein neues Stück schwimmender
Wehrkraft des Vaterlandes seinem Element übergeben konnten. Ein jeder,
der ihn mitgemacht, wird wohl von dem Gedanken durchdrungen gewesen
sein, daß das stolze Schiff bald seinem Berufe übergeben werden könne;
wir bedürfen seiner dringend und bitter not ist uns eine starke deutsche
Flotte. Sein Name erinnert uns an die erste glanzvolle Zeit des alten
Reiches und seines mächtigen Schirmherrn. Und auch in jene Zeit fällt
der allererste Anfang Hamburgs, wenn auch nur als Ausgangspunkt für
die Missionsthätigkeit im Dienste des gewaltigen Kaisers. Jetzt ist unser
Vaterland durch Kaiser Wilhelm den Großen neu geeint und im Begriff,
sich nach außen hin herrlich zu entfalten. Und gerade hier inmitten dieses
mächtigen Handelsemporiums empfindet man die Fülle und Spannkraft,
welche das deutsche Volk durch seine Geschlossenheit seinen Unternehmungen
zu verleihen im stande ist. Aber auch hier weiß man es am höchsten zu
schätzen, wie notwendig ein kräftiger Schutz und die unentbehrliche Stärkung
unserer Seestreitkräfte für unsere auswärtigen Interessen sind. Doch langsam
nur greift das Gefühl hiefür im deutschen Vaterlande platz, das leider
noch zu sehr seine Kräfte in fruchtlosen Parteiungen verzehrt. Mit tiefer
Besorgnis habe Ich beobachten müssen, wie langsame Fortschritte das In-
teresse und politische Verständnis für große, weltbewegende Fragen unter
den Deutschen gemacht hat. Blicken wir um uns her — wie hat seit einigen
Jahren die Welt ihr Antlitz verändert! Alte Weltreiche vergehen, und neue
sind im Entstehen begriffen. Nationen sind plötlich im Gesichtskreis der
Völker erschienen und treten in ihren Wettbewerb mit ein, von denen kurz
zuvor der Laie noch wenig bemerkt hatte. Ereignisse, welche umwälzend