Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 12.) 175 
der Flottenfrage geht es mit Ausdauer und Konsequenz stets: Volldampf 
voraus! (Heiterkeit.) „Daß ein weiterer Plan kommt, steht für mich felsen- 
fest", sagte ich damals. Herr Lieber setzte sich mir gegenüber aufs hohe 
Pferd und kanzelte mich ab, ein solcher Plan könne nicht existieren, weil 
er nicht existieren dürfe, nachdem die bündigsten Erklärungen der Regierung 
in Bezug auf die Bindung abgegeben seien. Wir brauchten nicht acht 
Monate lang zu warten, und der neue Flottenplan ist da, vorgelegt von 
demselben Staatssekretär Tirpitz. An der Flottenverstärkung hätten die 
kapitalkräftigsten Großindustriellen das größte Interesse, daher die große 
Agitation für die Vermehrung. Die letzten Weltereignisse bewiesen nichts. 
Ich mag Herrn Chamberlain nicht und mache ihn für diesen brutalen 
Krieg in Südafrika verantwortlich, aber da stimme ich ihm zu, es gibt 
zwischen Deutschland und England keinen Interessengegensatz. Deutschland 
als erste Militärmacht und England als erste Flottenmacht ergänzen sich 
und können zusammenstehend der Welt den Frieden diktieren. Wenn man 
glaubt, daß bei einem unglücklichen Ausgang des Krieges für England die 
englische Macht zusammenfallen werde und man jetzt schon die Krallen 
spitzen könne, um zuzugreifen, so irrt man sich. Eine Niederlage würde 
England sich zu nutze machen und seine Heeresorganisation verbessern. 
(Heiterkeit rechts.) Die Engländer sind auch sehr fromme Leute; ich weiß 
nicht, ob die Königin von England oder der Präsident Krüger bibelfester 
ist; nur die gute Bewaffnung und Taktik hat den Buren den Sieg ver- 
liehen. Wenn die Flottenvorlage erledigt ist, wird wieder eine Militär- 
vorlage kommen. 7000 Mann sind ja noch von der letzten Vorlage rück- 
ständig. Wenn Sie diese Vorlage für das Deutsche Reich, welches in erster 
Linie ein Reich der Reichen ist, für notwendig halten, dann greifen Sie 
in Ihren eigenen Beutel, bezahlen Sie die Flotte aus Ihrer eigenen Tasche! 
Wenn heute eine Krise ausbricht, werden gerade die einheimischen Arbeiter 
aufs Pflaster geworfen; denn die Unternehmer haben ja ausländische 
Arbeiter in Menge hereingezogen, um die Löhne zu drücken, die Organi- 
sationen zu zerstören. Der Tuberkulosekongreß, der in diesem Saale tagte, 
hat Maßregeln vorgeschlagen, die für die Kultur weit mehr bedeuten wür- 
den, als die Flottenvorlage (Lärm rechts), aber dafür hat man nichts übrig, 
nichts für die Arbeiter, nichts für die Organisation der Arbeiter, für ein 
Reichsarbeitsamt. Die gläubige Christenheit wird in einigen Wochen singen: 
Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Und wie bereiten 
Sie diese christliche Feier vor: Indem Sie Flottenvorlagen beraten, Zer- 
störer des Lebens und der Existenz der Erdbewohner. (Große Unruhe rechts.) 
Das ist Ihr Christentum, das Christentum, das in diesem christlichen Staate 
längst eine elende Phrase geworden ist. (Großer Beifall bei den Sozial- 
demokraten; Lärmen rechts) Wegen der letzten Worte ruft der Präsident 
den Redner zur Ordnung. 
Staatssekretär Tirpitz: Abg. Bebel hat die Sache so darzustellen 
versucht, als ob wir gewissermaßen von der Industrie bezw. den Leitern 
der Industrie vorgeschoben würden. Das ist eine sehr eigentümliche Be- 
hauptung. Als ich vor 2½ Jahren die Durcharbeitung des Flottengesetzes 
vornahm, war ich mir über die Leistungsfähigkeit der Industrie nicht ganz 
im klaren. Ich bin deshalb persönlich, als die Verhältnisse dringender 
wurden und als ich kommen sah, daß wir gezwungen sein werden, mit 
einer weiteren Verstärkung der Flotte vorzugehen, herumgereist und habe 
mich bei den verschiedenen in Betracht kommenden Industrien orientiert. 
Ich habe bei dieser Gelegenheit in diskreter Weise die Leiter der Industrie 
darauf aufmerksam gemacht, daß wir möglicherweise früher, als wir bisher 
angenommen, zu dieser Verstärkung kommen könnten, und daß sie sich darauf
	        
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