Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 13.) 177
zeigt sich die Fortbildung in dieser Richtung.“ Gerechterweise kann man
mir aus dieser Durchgangsentwicklung Wandelbarkeit nicht vorwerfen. Ich
finde es sehr kleinlich, mir nach Art der „Tante Voß"“ die alte Zeit immer
wieder vorzuhalten. Es ging mir damals doch nicht allein so. In der
Erschütterung des Jahres 1848 waren Hunderte von Studenten in der-
selben Lage, und alle meine damaligen Freunde, soweit sie heute noch leben,
stehen auf demselben Standpunkt wie ich. Was will das also sagen? Seit
der Zeit aber, Herr Dr. Lieber, habe ich keine anderen Wandlungen durch-
gemacht als diejenigen, welche jeder denkende Mensch, der sich um öffentliche
Angelegenheiten bekümmert, täglich erfährt und immer wieder von neuem
veränderten Aufgaben gegenüber notwendig durchmachen muß, wenn er sich
nicht einbildet, daß seine einmal gefaßte Meinung über eine bestimmte
Frage für ewige Zeiten richtig sei, wie sich denn auch Zustände und Ver-
hältnisse geändert haben. Wenn ferner Herr Lieber unter „Agrariertum“
die objektive Beurteilung der Lage der Landwirtschaft versteht, das Ver-
ständnis, daß wir in Deutschland weder allein Agrarstaat noch allein
Industriestaat sind, daß die Landwirtschaft ohne eigenes Verschulden, durch
die Entwicklung der Dinge in eine schwere Lage gekommen ist und daß der
Staat die Aufgabe und Pflicht hat, soweit es in seiner Macht liegt und
soweit Interessen anderer Klassen dadurch nicht wesentlich geschädigt werden,
für sie zu thun, was nötig ist, so übernehme ich diese Charakterisierung
mit Stolz und werde auch in der kurzen Zeit, wo ich noch mitzuwirken
haben werde, demgemäß weiter handeln. (Lebhafter Beifall rechts.) Ich
soll das deutsche Volk bei Sr. Majestät verdächtigt haben. Ich muß es
unter meiner Würde halten, auf solchen Vorwurf zu antworten, ich könnte
es auch nicht in parlamentarischer Form, mein moralischer Widerwille
würde mich fortreißen. (Oho! im Zentrum.) Bei vierzigjähriger Thätig-
keit für das deutsche Volk, für die Wiederaufrichtung des Reichs, bei lebens-
langer Thätigkeit auf allen Gebieten des Staatslebens könnte ich vielleicht
vermessen genug sein, mich mit dem so hochverdienten Abg. Lieber auf eine
Stufe zu stellen. Ich will nicht weiter darauf eingehen. Ich verstehe nicht,
woher der plötzliche Zorn gegen mich entstanden ist. Wir hatten im vorigen
Landtag gemeinsam für das Kommunalgesetz gearbeitet, wir schienen im
besten Einklang zu sein; Herr Lieber besuchte mich in freundschaftlichster
Weise in Ems; wir unterhielten uns damals über die laufenden Fragen
in vollem Einvernehmen und schieden freundschaftlichst, von irgend einer
Mißhelligkeit war nicht die Rede. Plötzlich wird in Mainz eine Rakete
losgelassen, ich werde als der Feind des Zentrums hingestellt, vor dem man
sich hüten müsse, als einflußreicher Mann, auf den man achten müsse bei
den Beschlüssen des Zentrums. Ich war im höchsten Grade erstaunt und
wußte mir das nicht zu erklären. Darauf folgte unmittelbar eine gewaltige
Hetze der ganzen klerikalen Presse gegen mich. Es war System in der
Sache. Woher kam das? Herr Dr. Lieber weiß recht gut, wie sehr ich
von jeher die konfessionellen Fragen mit der größten Objektivität, mit Ge-
rechtigkeit und Billigkeit behandelte, als Abgeordneter, als Mitglied des
Herrenhauses, als Kommunalbeamter und Minister; er weiß ganz genau,
daß ich diese konfessionellen Schärfen für ein Unglück halte für die Geschichte
unsres Vaterlandes; er weiß genau, daß ich immer danach gestrebt habe,
die Gegensätze möglichst abzuschwächen, schon weil ich darin eine große
Stärkung unsres Landes sehe; er weiß, daß ich voll die patriotische und
reichstreue Haltung des Zentrums bei Gelegenheit des Bürgerlichen Gesetz-
buches und des Flottengesetzes anerkannt habe; er weiß also ganz genau,
daß ich geradezu unfähig bin, gegen das Zentrum vorzugehen. Wie kommt
er dazu, mir solche Dinge zu insinuieren? Gerade das Bestreben, die
Europäischer Geschichtskalender. XI. 12