Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

232 Frankreich. (Februar 16.—21.) 
Unsere Regierung will weder Diktatur noch Gewalt. Sie ist eine Regierung 
der Wachsamkeit. Als wir die Regierung übernahmen, war die Dreyfus- 
Affaire auf dem juristischen Terrain. Wir bemühten uns, sie dort zu lassen. 
Wir unterstützten die Justiz; wir lieferten ihr alle gewünschten Mittel aus; 
wir bekämpften sogar im Senat und in der Kammer die Vorschläge auf 
Aenderung des Verfahrens. Aber seitdem hat die Sachlage sich verändert. 
Das Land verlangt Ruhe, während tagtäglich neue Unruhen und neue 
Zweifel auftauchen. Die Regierung hat die einzige Sorge, daß das End- 
urteil des Kassationshofs von zwingender Autorität sei, und wenn darüber 
eine kleine Verzögerung eintreten sollte, so ist das Unglück nicht so groß, 
als wenn schließlich das Land kein Vertrauen zum Endurteil in der Affaire 
Drefus wFe (Stürmischer Beifall rechts und in einem großen Teil 
er Mitte. 
16. Februar. (Paris.) Der Präsident der Republik, Felix 
Faure, stirbt unerwartet an einem Schlaganfall. 
18. Februar. (Versailles.) Zum Präsidenten der Republik 
wird Emile Loubet mit 483 Stimmen gewählt. Meéline erhält 
270 Stimmen. 
21. Februar. Der Präsident der Republik, Loubet, läßt im 
Senat durch den Justizminister und in der Kammer durch den 
Ministerpräsidenten folgende Botschaft verlesen: 
„Meine Herren Senatoren, meine Herren Deputierten! Zum obersten 
Amte des Landes berufen, bedarf ich zur Erfüllung der hohen Pflichten, 
welche dasselbe auferlegt, der Mithilfe des Senats und der Deputierten- 
kammer. Ich bitte Sie um Ihre Mithilfe und bin sicher, daß sie mir nicht 
mangeln wird. Sie dürfen darauf rechnen, meine Herren, daß ich den festen 
Willen habe, alle meine Kräfte dem Schutze der Verfassung zu widmen; 
als Pfand dafür dient Ihnen meine unabänderliche Hingabe für die Re- 
publik. Die in wenigen Stunden nach dem plötzlichen Ableben des teuren 
und betrauerten Präsidenten Felix Faure vollzogene regelrechte Uebergabe 
der Gewalten ist in den Augen der ganzen Welt ein neuer Beweis der 
Treue Frankreichs für die Republik gewesen, in dem Augenblicke sogar, 
wo einige Verirrte das Vertrauen des Landes in seine Einrichtungen zu 
erschüttern suchten. Die Nationalversammlung hat am Tage des 18. Februar 
klar ihr Verlangen zu erkennen gegeben, eine Beruhigung der Gemüter 
herbeizuführen und die Einigung aller Republikaner wiederherzustellen und 
dauerhaft zu gestalten. In meiner leidenschaftlichen Hingabe an die Grund- 
sätze der französischen Revolution und die Herrschaft der Freiheit wird es 
meine beständige Sorge sein, das Parlament bei jenem notwendigen Werke 
der Duldsamkeit und der Eintracht zu unterstützen. Im Laufe der vorüber- 
gehenden Schwierigkeiten, die wir durchgemacht haben, ist Frankreich durch 
die Kaltblütigkeit, die Würde und den Patriotismus des Parlaments in 
der Achtung der Welt gewachsen. Weshalb soll man nicht hoffen, daß 
dasselbe Einvernehmen auch bezüglich unserer innern Angelegenheiten her- 
gestellt werden könnte? Und besteht nicht dieses Einvernehmen schon im 
Lande? Herrscht der geringste Zweifel über dit Notwendigkeit, den wesent- 
lichen Organen der Gesellschaft die gleiche Achtung entgegenzubringen, 
nämlich den Kammern, welche über die Gesetze in voller Freiheit beraten, 
dem Richterstande, der die Gesetze anwendet, der Regierung, die sie ausführt, 
und dem nationalen Heere, welches die Unabhängigkeit und Unantastbarkeit
	        
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