236 Frankreich. (April 22.—Mai 6.)
22. April. (Paris.) Die Akademie der moralischen und poli-
tischen Wissenschaften verleiht den Audiffred-Preis (15000 Francs)
an Major Marchand für seine Durchquerung Afrikas.
3. Mai. (Paris.) Der „Figaro“ schreibt über seine Ver-
öffentlichung der Untersuchungsakten:
„Die Veröffentlichung des Dossiers der Enquete geht nun zu Ende.
Wir haben sie ohne Zaudern begonnen und trotz der maßlosesten Angriffe
und Beschimpfungen unverzagt durchgeführt. Dank dieser Veröffentlichung,
deren wir uns rühmen dürfen, haben wir es unmöglich gemacht, daß der
Wahrheit hinterlistig ein Bein gestellt wird. Wir haben dem Publikum
gesagt: Da die Regierung nicht wünscht, daß man sich ein Urteil bilde —
nun so urteile du selbst. Wir laden dich zu diesem Vorhaben ein, zu dem
nichts weiter gehört als schlichter Verstand und Ehrlichkeit. Und das
Publikum hat sein Urteil gefällt. Es hat seinerseits sein Werk gethan
und der Rückschlag wird sich — wenn es nicht schon der Fall sein sollte —
bis in die Freistatt der Gerechtigkeit fühlbar machen. Und wie urteilte
das Publikum Es urteilt, daß, wenn die Unschuld von Dreyfus nicht
dargelegt wurde, noch weniger seine Schuld erwiesen sei. Die Unschuld
aber beweist man überhaupt nicht. Wenn man also die Unschuld
von Dreyfus nicht strikte erwiesen hat, so hat man noch viel weniger seine
Schuld bewiesen! Gewiß haben sieben Offiziere, die durchweg ehrliche
Leute sind, ihn verurteilt. Allein diese sieben befanden sich in totaler
Unkenntnis des Rechts und der Rechtsformen; sie urteilten lediglich auf
Grund von Aussagen der Sachverständigen, die sich widersprachen und
ihre Gutachten zum Teil zurückzogen, summarisch über Dreyfus ab. Sie
standen übrigens schon im Begriff, ihn freizusprechen. Da fand man im
Saal einen geheimen Aktenbund, in welchem es von Fälschungen und gesetz-
widrigen Aktenstücken wimmelte und im Vertrauen auf diese Dokumente
verurteilten sie ihn! Nach der Verurteilung sucht man die Beweise
zusammen. Dann kommt die so oberflächlich und ungesetzlich abgeurteilte
Sache vor den Obersten Gerichtshof und wird nun Gegenstand gewissen-
hafter Untersuchung. Und kein einziger Beweis für Dreyfus'’ Schuld
kommt dabei zutage! Vier Jahre lang sucht man die Beweise, seit 17
Monaten wird mit Hilfe von allen amtlichen Gewalten die Spur ab-
gesucht — und kein einziger Schuldbeweis wird gefunden!“
5. Mai. (Deputiertenkammer.) Rücktritt des Kriegs-
ministers Freycinet.
Am 29. April hat Freycinet den Lehrer Duruy an der polhytechnischen
Schule suspendiert, weil er in seinen Vorlesungen die Unschuld von
Dreyfus behauptet, und dadurch Unruhen hervorgerufen hatte. — Freycinet
wird deshalb von den Radikalen in der Kammer heftig angegriffen, und
als er sich verteidigen will, durch Lärm am Reden gehindert. Er verläßt
deshalb die Tribüne und legt sein Ministerium nieder (5. Mai). — Sein
Nachfolger wird der Bautenminister Krantz, dessen Portefeuille der Senator
Monestier übernimmt. Krantz befiehlt die Wiederaufnahme der Vor-
lesungen Duruys (15. Mai).
6. Mai. (Deputiertenkammer.) Minister des Auswär-
tigen Delcassé erklärt über das englisch-französische Abkommen
(S. 217):