254 Jialien. (November 28.)
1897 kam man durch Gespräche von Zeugen, die sich dann zu formellen
neuen Aussagen verstanden, dahinter, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die
gesuchten Individuen nie existiert, sondern die beiden Beamten selbst den
Mord begangen haben. Der Hauptzeuge, der sich beim ersten Prozeß —
immer aus Furcht vor der Maffia — nicht gemeldet hatte, sagte nun aus,
er habe vom Fenster seines Coupés 3. Klasse aus gesehen, wie der Körper
auf den Bahndamm geworfen wurde und wie ein Mann die Coupéthür
wieder schloß, der eine Bahnbeamtenmütze trug. So wurden jene beiden
Beamten aufs neue verhaftet und der Prozeß nach zweijähriger Untersuchung
vor dem Schwurgerichte in Mailand wiedereröffnet. Bis dahin handelte
es sich vorwiegend um einen traurigen Kriminalfall. Während aber in der
jetzigen Verhandlung das Gericht hofft, die Mörder selbst ihres Verbrechens
überführen zu können, hat der als Zeuge auftretende Sohn des Ermordeten
die Frage nach der Anstiftung wieder ausgenommen und seine furchtbare
Aussage hat die ganze Erörterung auf ein anderes Gebiet hinübergespielt.
Leutnant Notarbartolo hat unter seinem Eid ausgesagt, der Anstifter des
Mordes sei der Abgeordnete Raffaele Palizzolo, der auch noch heute den
Wahlkreis Palermo III als eines der angesehensten Mitglieder der fizi-
lianischen Deputation im Parlament vertritt. Man wußte, daß er ein
Haupt der Maffia sei, daß er Notarbartolo's Todfeind war, daß er von
dessen Aussagen viel zu fürchten hatte; man hatte seinen Namen flüsternd
genannt, aber niemand hatte gewagt, es auszusprechen, daß dieser Mann,
der seit 16 Jahren eine der größten Städte des Landes in der Kammer
vertritt, ein Mörder sei. Ein Moment, dessen man sich jetzt erinnert, erhöht
die Bedeutung der Aussage. Vor einigen Jahren brachte er in der Kammer
gegen das Ministerium Thatsachen vor, die er nur aus einem geheimen
Bericht haben konnte und dieser Bericht war aus dem Ministerium des
Ackerbaues gestohlen worden. Palizzolo bewies damals seine Unschuld, die
man ihm damals glaubte. Heute weist man aber darauf hin, daß auch
der Bankbericht, den Notarbartolo 1892 an Giolitti sandte, 1894 spurlos
aus dem Archiv verschwunden war. Alles das ließ natürlich erwarten, daß
Palizzolo einen flammenden Protest gegen diese Beschuldigungen erheben
werde. Statt dessen erschien in den Zeitungen ein schwacher, verlegener
Brief, in dem die charakteristische Stelle vorkommt: „Man hat mich schon
öfters beschuldigt, aber man hat noch nie meine Schuld beweisen können.“
Mehr hatte er nicht zu sagen und erst auf energisches Drängen seiner poli-
tischen Freunde beantragte er eine Untersuchung gegen sich. Man will ihn
zunächst zur Mandatsniederlegung zwingen. Alle Zeitungen besprechen mit
bitteren Klagen die Zustände Siciliens, wo an der Schwelle des 20. Jahr-
hunderts noch die Nebenregierung eines verbrecherischen Geheimbundes wie
die Maffia nicht nur möglich, sondern gewiß ist.
Der weitere Verlauf des Prozesses, in dem Abg. Palizzolo verhaftet
wird, beweist, daß die Maffia die sizilianischen Gerichtsbehörden bei früheren
Untersuchungen eingeschüchtert hat. Der Kriegsminister, General Mirri,
der 1893 als außerordentlicher Kommissär auf Sizilien wirkte, bestätigt
das. — Um den Prozeß dem Einfluß der Maffia zu entziehen, ist er nach
Mailand verlegt worden.
28. November. (Deputiertenkammer.) Schatzminister Bo-
selli legt das Budget vor.
Der Minister wirft einen Rückblick auf das Budgetjahr 1898/99,
welches das günstigste der letzten zehn Jahre gewesen sei, da es mit einem
Ueberschuß von mehr als 5 Millionen abgeschlossen habe. In Bezug auf
das Budgetjahr 1899/1900 begründet der Schatzminister seine Auffassung,