Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

260 Belzien. (Mai 15. — Juni 29.) 
staatsrechtlichen Merkwürdigkeiten. Das neue Gesetz soll also nur auf die 
Wahlbezirke Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Gent, Charleroi, Mons und 
Löwen angewendet werden, welche je 6 bis 18 Abgeordnete und 3 bis 9 
Senatoren ins Parlament entsenden. In diesen Bezirken soll die ver- 
hältnismäßige Vertretung, d. h. die Vertretung der Minderheiten in der 
Weise eingeführt werden, daß die Minderheit, die es wenigstens auf den 
sechsten Teil aller abgegebenen Stimmen gebracht hat, ein Abgeordneten- 
mandat zugewiesen erhält. Eine weitere Neuerung besteht darin, daß in 
diesen Wahlbezirken gleichzeitig mit den Abgeordneten auch Ersatzabgeord- 
nete gewählt werden sollen, welche die freigewordenen Mandate auszufüllen 
haben. In den genannten sieben Wahlbezirken kann also während einer 
Legislaturperiode keine Nachwahl für einen verstorbenen oder zurückgetretenen 
Abgeordneten stattfinden, weil in diesem Falle sofort der im vorhinein 
gewählte Ersatzmann an seine Stelle tritt. („Allg. Ztg.“) 
Nach einer Berechnung der Liberalen wird die liberale Partei 
hierdurch 11 Mandate gewinnen, die Ultramontanen dagegen 100 Sitze 
sicher haben. — Deshalb wird der Entwurf von allen Oppositionsparteien 
aufs heftigste bekämpft. 
15. Mai. (Charleroi.) Der Vorstand der nationalen Ver- 
einigung der Bergarbeiter beschließt, die Arbeit wieder aufzunehmen. 
Viele Arbeiter haben schon die Arbeit wieder aufgenommen und 
sich mit einer Lohnerhöhung von 5 Prozent begnügt. 
26. Mai. (Brüssel.) Der „Internationale Bergmanns- 
kongreß“ fordert, daß die Bergwerksinspektoren unabhängig von 
den Zechenbesitzern sein sollen und empfiehlt Verstaatlichung aller 
Bergwerke. 
29. Mai. (Brüssel.) Die sämtlichen Oppositionsparteien 
veranstalten eine Massenkundgebung gegen die Wahlreformvorlage. 
23. Juni. In der Kammer wird die Regierung und der 
König scharf angegriffen wegen der Wahlreform. 
Ende Juni. (Brüssel.) Täglich finden große Massen- 
demonstrationen gegen das Ministerium statt. Es kommt zu blu- 
tigen Zusammenstößen mit der Polizei, besonders am 28. Juni. 
29. Juni. (Brüssel.) Stürmische Kammersitzung und 
Straßenunruhen. 
In der Kammer wird der Ministerpräsident Vandenpeerebom wegen 
des gestrigen Einschreitens der Gendarmerie interpelliert. Der Minister- 
präsident nimmt die Interpellation an; die Diskussion wird spystematisch 
von den Sozialisten durch beleidigende Aeußerungen gegen Vandenpeerebom 
unterbrochen, dem sie vorwerfen, er habe das Blutvergießen verschuldet. 
Der Minister erklärt, man müsse ihn anhören, damit man die Absichten 
der Regierung kennen lerne. Auf den Grund der Interpellation eingehend, 
sagt er, es sei unmöglich, jetzt schon genaue Einzelangaben über die gestrigen 
Unruhen zu machen; jedenfalls aber seien keine Gewaltmaßregeln angewandt 
worden, bevor nicht zum Auseinandergehen aufgefordert worden war. Die 
Verteidiger der Ordnung hätten erst, nachdem sie mit äußerster Heftigkeit 
angegriffen und verwundet worden waren, von den Waffen Gebrauch
	        
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