Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

278 Rußland. (September—Dezember 20.) 
September. Die Presse ist geteilt in ihrem Urteil über den 
Dreyfusprozeß. Die „Nowoje Wremja“ z. B. ist erfreut über die 
abermalige Verurteilung Dreyfus', andere bedauern die Dreyfus- 
angelegenheit, weil sie Frankreich schwäche. 
Oktober. (Finland.) Ein Tagesbefehl des Gouverneurs 
befiehlt, auf die Verbreitung der Kenntnis der russischen Sprache 
im Heere zu dringen. 
1. November. Der Minister des Innern, Goremykin, tritt 
zurück und wird durch den Hof-Jägermeister Sipjangin ersetzt. 
November. Viele Zeitungen fordern die Regierung auf, die 
Verwicklung Englands in Südafrika zu einer Offensivpolitik in Afien 
zu benützen. 
Ende November. Die russische Regierung vermehrt ihre Streit- 
kräfte an der afghanischen Grenze. Als Motiv wird die Möglich= 
keit von Unruhen nach dem Tode des Emirs angegeben. 
Dezember. Die Konzession der Bagdadbahn wird von der 
Presse verschieden beurteilt. „Petersb. List.“ sieht darin keine Ge- 
fahr für Rußland, während die „Nowoje Wremja“ eine wirtschaft- 
liche Beherrschung Kleinasiens durch Deutschland fürchtet. 
20. Dezember. (Petersburg.) Der Keiser richtet folgendes 
Reskript an den Finanzminister Witte über die wirtschaftliche Lage: 
„In Erfüllung Meines Befehls prüfte das Finanzkomitee in der 
vorgeschriebenen Ordnung auf Ihren Wunsch die gegenwärtige Lage des 
Geldmarkts im Zusammenhang mit der über diesen Gegenstand erfolgten 
Mitteilung des Finanzministeriums und legte Mir folgende, einstimmig 
gefaßte Resolution vor: 1. In letzter Zeit erfährt unser Geldmarkt eine 
überaus starke Einwirkung gleichzeitig vorhandener ungünstiger Faktoren. 
An die Spitze dieser Faktoren muß die überall vorhandene Teuerung des 
Kapitals gestellt werden, die durch den Krieg Englands mit Transvaal ver- 
schärft wird. Die Wirkung dieser Ursache wurde durch die schwachen Ernten 
der letzten Jahre kompliziert, ferner durch die Verschlechterung der Abrech- 
nungsbilanz als Folge der ersteren, und durch den in den letzten Jahren 
außergewöhnlich schnellen Aufschwung unserer Industrie. Obgleich die Ent- 
wicklung der Industrie an sich für das Land günstig ist, so verstärkt sie 
doch unter den obwaltenden Umständen die Beengung des Geldmarkts. 
2. Das Zusammenfallen solcher äußerst schweren Bedingungen wird natür- 
lich von unserem Geldmarkt nicht ohne einige Schwierigkeiten ertragen, doch 
diese Schwierigkeiten würden mit weit größerer Kraft zutage treten, wenn 
das Land ihnen nicht durch ein rationelles Geldsystem entgegentreten könnte. 
Darum muß unsere Finanzpolitik auf die Erhaltung der Stetigkeit unfrer 
Geldzirkulation gerichtet sein, welche die wichtigste Bedingung für die regel- 
rechte Entwicklung des Staats= und Volkshaushalts ist. 3. Die gegenwär- 
tige Sachlage erfordert keine allgemeinen außerordentlichen Maßnahmen von 
dem Finanzministerium. Die von der Reichsbank ergriffenen partiellen 
Maßnahmen zur Beunruhigung des Marktes und zur Unterstützung einiger
	        
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