Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

        Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 21./24.)      23
 
werde. Kultusminister Dr. Bosse wendet sich gegen Abg Richter. Infolge 
von Beschwerden christlicher Eltern sei bestimmt worden, daß jüdische 
Lehrerinnen nur da unterrichten, wo jüdische Kinder wären. Ueber den 
Fall Delbrück sagt der Minister: Von der Lehrfreiheit ist hierbei gar keine 
Rede. Der ganze Fall Delbrück liegt nicht auf diesem Gebiete, sondern 
auf dem Gebiete des Beamtenrechts und des Beamtentaktes. Die Profes- 
soren sind zweifellos Staatsbeamte. Sie haben dieselben Pflichten wie die 
Staatsbeamten. Der Satz: „professor legibus solutus est“ gilt in 
Preußen nicht. (Sehr richtig! rechts.) Professor Delbrück ist Herausgeber 
der „Preußischen Jahrbücher“, die mehr regierungsfreundlichen Tendenzen 
folgen. Aber in Bezug auf einzelne grundlegende Fragen nimmt jene 
Zeitschrift eine gegnerische Stellung ein. Ich darf nur hinweisen auf die 
seltsamen Ausführungen über die Polenpolitik der Regierung; sie ließen 
an Schärfe nichts zu wünschen übrig. Aber niemand hat daran Anstoß 
genommen, denn die Regierung fürchtet die Kritik nicht; sie kann unter 
Umständen nützen und kann unter Umständen sehr patriotisch sein. Aber 
um eine solche sachliche Kritik handelt es sich in dem betreffenden Artikel 
nicht; er sprach das Urteil in einer verletzenden Form aus, die die Regie- 
rung unmöglich ertragen konnte. Wenn wir das ruhig hätten hingehen 
lassen, unter diesen Verhältnissen, wo das Ausland Gift daraus saugen 
konnte, so hatten wir keinen Anspruch mehr auf Achtung. Die wissen- 
schaftliche Bedeutung des Professors liegt zum Teil auf einem Gebiete, 
das nicht jedermann bekannt ist; deshalb bin ich damals bezüglich des 
Polenartikels für ihn eingetreten. Aber das kann mich nicht hindern, 
in diesem Falle meine Pflicht zu thun. Man sagt: die Negierung strenge 
ein Disziplinarverfahren an gegen den Nachfolger v. Treitschkes. Der 
Lehrauftrag v. Treitschkes ist noch nicht vergeben, weil es keinen Nachfolger 
für ihn gibt. (Zustimmung rechts.) Die Professoren haben stets den Takt 
bewiesen, daß sie sich nicht in dieser Weise wie in diesem Falle gegen die 
Behörden gewendet haben. Wenn wir gegenüber diesen maßlosen Be- 
schimpfungen die Hände in den Schoß gelegt hätten, wo hätten wir wohl 
die Kraft und die Autorität herbekommen sollen, gegen die Unterbeamten 
vorzugehen! Mit gerechter Hand, aber mit eiserner Energie müssen wir 
vorgehen. 
             Abg. Sattler (nl.) ist mit der Aufstellung des Etats im all- 
gemeinen einverstanden und betont lebhaft die Notwendigkeit des projektierten 
Mittellandkanals. Ueber den Schießerlaß sei nähere Aufklärung notwendig. 
Das Verfahren gegen Prof. Delbrück sei unzweckmäßig, da diesen als 
Politiker niemand ernst nehme. 
              Am 23. erklärt Min. des Innern v. d. Recke: Herr Richter 
wünscht Auskunft über die Bestätigung des Ober-Bürgermeisters von Berlin 
und über die Verhältnisse des Friedhofes der Märzgefallenen. Er konstruiert 
einen Zusammenhang zwischen beiden Dingen und folgert, daß die Polizei 
eine Entscheidung unterlasse, um den Rechtsweg abzuschneiden. Die Wahl 
des ersten Bürgermeisters hat im Juni 1898 stattgefunden. Die allgemeine 
Praxis ist, die Bestätigung erst sechs Wochen vor Beendigung der Wahl- 
periode nachzusuchen, weil sonst allerhand Menschlichkeiten dazwischen kommen 
könnten. In diesem Fall ist eine besondere Verkettung von Umständen 
eingetreten. Es waren mündliche Rücksprachen nötig, welche durch Ab- 
wesenheit von Personen verzögert wurden. Die Allerhöchste Entscheidung 
steht noch aus. Mag sie nun so oder so ausfallen, jedenfalls unterliegt 
sie nicht der Kritik des hohen Hauses. Der Kirchhof der Märzgefallenen 
soll neu eingefriedigt werden. Der Plan ist eingereicht worden; er hat 
Einspruch erfahren; es sind neue Pläne eingefordert worden. Das hat,
	        
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