Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Sozial- 
politik. 
320 Mebersicht der polilischen Enktwickelung des Jahres 1899. 
zu erweitern, wurde begründet mit der Veränderung der Weltlage 
in den letzten zwei Jahren: so hat der spanisch-amerikanische Krieg 
eine neue Eroberungsmacht auf die Weltbühne gerufen, deren Inter- 
essen sich auch mit den deutschen kreuzen, z. B. auf den Philippinen 
und in Südamerika, und die Samoawirren zeigten deutlich, daß 
Deutschland einer stärkeren Vertretung in den überseeischen Gebieten 
bedürfe. Eine wichtige Rolle in der Diskussion spielte die Deckungs- 
frage. Nach dem Vorschlage der Regierung sollten die Kosten durch 
eine Anleihe aufgebracht werden, aber dagegen erhob sich von vielen 
Seiten Widerspruch, da die Verzinsung in erster Linie erhöhte in- 
direkte Steuern und somit eine Belastung der Massen notwendig 
machen werde. Auch im Reichstage führten alle diese Fragen zu 
einer langen und erregten Debatte, noch ehe die Regierung selbst 
mit einer offiziellen Vorlage hervorgetreten war, aber ohne daß sich 
übersehen ließ, wie schließlich das Votum der Mehrheit ausfallen 
werde. Auch jetzt nach dem Erscheinen der Vorlage ist eine Klä- 
rung noch nicht eingetreten; die Entscheidung liegt beim Zentrum, 
und es scheint, als ob es über die Verstärkung erst verhandeln wolle, 
wenn es über die Deckungsfrage seinen Willen durchgesetzt hat. 
In der Sozialpolitik herrschte im abgelaufenen Jahre ein 
frischerer Zug als die Jahre vorher. So wurde eine Novelle zum 
Invalidenversicherungsgesetz und zur Gewerbeordnung angenommen 
und das Verbot, daß politische Vereine nicht mit einander in Ver- 
bindung treten sollen, ausgehoben. Für den Verzicht auf diese 
Handhabe zur Beausfsichtigung der politischen Bewegung verlangte 
die Reichsregierung keine Kompensationen, nachdem sie der preußi- 
schen Regierung im Jahre 1897 vom Landtage verweigert worden 
waren. Diese Haltung der Regierung erweiterte die Kluft zwischen 
Regierung und Konservativen noch mehr; diese verlangen an der 
Tradition ihrer Partei festhaltend, Bekämpfung der Sozialdemo- 
kratie als einer revolutionären Partei mit Gewalt und erblicken 
deshalb in der Aufhebung jeglicher Befugnis, ohne daß gleichzeitig 
der Staat ein anderes Machtmittel erhält, ein schwächliches Pak- 
tieren mit der Revolution. Der Reichskanzler zog sich deshalb aus 
Anlaß der Aufhebung dieses Verbots ein ausdrückliches Mißtrauens- 
votum seitens der konservativen Parteien zu.
	        
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