Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Das Veische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 12. 13./14.) 163 
burg unterzeichnen einen Vertrag über die Verlängerung des bis- 
herigen Zollvereinsvertrags. 
12. November. (Reichstag.) Geschäftsordnungsdebatte über 
die Zulässigkeit des Antrags Aichbichler. Erklärung Richters. 
Abg. Spahn (3.) beantragt, den Antrag Aichbichler auf die morgige 
Tagesordnung zu setzen. Abg. Singer (Soz.) und Abg. Pachnicke (sfr. 
Vg.) erklären diese Tagesordnung auf Grund des § 35 der Geschäftsord- 
nung für unzulässig. Der Antrag sei ein Initiativantrag, und diese müßten 
der Reihe nach behandelt werden. Der Antrag sei verfassungswidrig. Abg. 
Bassermann (ul.): Der 8 35 bezöge sich nur auf Schwerinstage und sei 
für den vorliegenden Antrag unbrauchbar. Abg. Richter (frs. Vp.): Der 
Antrag ist um einer einzelnen Vorlage willen gestellt worden. Das ist der 
Hauptgrund, weshalb wir dagegen stimmen. Wir haben darum auch keine 
Eile mit der Beratung dieses Antrages. Dagegen halte ich die formellen 
Einwände des Abg. Singer nicht für berechtigt. Sie würden meiner ganzen 
parlamentarischen Praxis ins Gesicht schlagen. Auch der Abg. Rickert hat 
seinerzeit erklärt: „Ich bin der Ansicht, daß die Mehrheit einen solchen 
Antrag auf die Tagesordnung setzen kann.“ Die gleiche Ansicht hat der 
Abg. Twesten gehabt, der der eigentliche Vater unserer Geschäftsordnung 
ist. Die Schwerinstage sind zum Schutze der Minderheit geschaffen, die 
früher nicht in der Lage war, einen Initiativantrag auf die Tagesordnung 
zu bringen. Daraus zu folgern, daß nunmehr die Mehrheit nicht das 
Recht habe, einen wichtigen Antrag auf die Tagesordnung eines anderen 
Tages zu setzen, wäre ein kompleter Unsinn. Man soll keine Geschäfts- 
ordnung zu Gunsten bestimmter Vorlagen ändern, aber ebenso verkehrt ist 
es, die Geschäftsordnung nach einer bestimmten Vorlage auszulegen. (Stür- 
mischer Beifall. Lärm bei den Sozialdemokraten.) Nach Pflicht und Ge- 
wissen muß ich als eines der ältesten Mitglieder des Hauses erklären, daß 
die Auslegung der Geschäftsordnung falsch ist, die der Mehrheit verbieten 
will, an anderen als Schwerinstagen außer der Reihe Anträge auf die 
Tagesordnung zu setzen. (Stürmischer Beifall rechts. Große Unruhe bei 
den Sozialdemokraten.) Abg. Bebel (Soz.): Künftig werde Obstruktion 
auch bei den Etatsberatungen getrieben werden. — Nach weiterer Debatte 
wird mit 187 gegen 67 Stimmen beschlossen, den Antrag Aichbichler am 
13. zu beraten. 
13.14. November. (Reichstag.) Annahme des Antrags 
Aichbichler. 
Abg. Spahn (3.): Der Antrag sei veranlaßt durch die in letzter 
Zeit in außergewöhnlich großem Maße sich häufenden namentlichen Ab- 
stimmungen, welche in neun Tagen nicht weniger als 28 Stunden in An- 
spruch genommen. Es handele sich hier um keine Frage des materiellen 
Rechtes, sondern nur um eine Zweckmäßigkeitsfrage. Die Zolltarifvorlage 
sei von so überaus großer Wichtigkeit für das gesamte wirtschaftliche Leben 
des Volkes, daß es Pflicht des Hauses wäre, alles zu tun, um die Durch- 
beratung zu beschleunigen. Wenn die Bevölkerung die Gewißheit hätte, 
daß die Vorlage zu stande kommen werde, so würde die Gewißbeit allein 
schon genügen, um dem darniederliegenden wirtschaftlichen Leben einen 
neuen Ausschwung zu geben. Wenn die Obstruktionisten die Vorlage zu 
Falle zu bringen suchten, so täten sie das einzig und allein aus wahl- 
taktischen Gründen, und darum sei es umsomehr Pflicht der Mehrheit, das 
Vorhaben der Obstruktionisten zu durchkreuzen. Abg. Singer (Soz.): Die 
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