Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Das Denisqe Reithh und seine einzelnen Glieder. (November 28.) 171 
gewesen sein wird. (Bravo! im gesamten Hause.) Ich hoffe, daß kein 
Präsident mehr dieses Mittel anzuwenden nötig haben wird im Interesse 
der Würde des Reichstags. — Als Abg. Bachem seine Rede fortsetzen will, 
wird er durch den Lärm der Sozialdemokraten gezwungen, auf das Wort 
zu verzichten. 
28. November. (Görlitz.) Einweihung eines Kaiser Friedrich- 
Museums und einer Gedenkhalle durch den Kaiser. Ansprache des 
Kaisers über Pflicht und Freiheit; Preßerörterung. 
Auf die Begrüßung des Oberbürgermeisters erwidert der Kaiser: 
Indem Ich Ihnen, Mein verehrter Herr Oberbürgermeister, Meinen herz- 
lichen Dank ausspreche dafür, daß die Stadt Görlitz gewünscht hat, daß 
Ich an diesem Tage der Einweihung zugegen sein möchte, spreche Ich auch 
dem Komitee Meinen Dank und Meine Freude aus über das Werk, das 
Sie hier vollbracht haben. Es ist ein Werk der Erinnerung und deshalb 
möchte Ich glauben, daß der Name Erinnerungs= oder Gedenkhalle für 
diese Halle besser paßte als Ruhmeshalle. Es ist ungermanisch, sich zu 
rühmen. Wir wollen Gott dankbar sein, daß er Meinem Großvater und 
Vater geholfen hat, unser Land wieder zu einigen und uns bis hierher 
zu führen. Wir sollen uns aber dessen nicht rühmen, denn ohne ihn wäre 
es wohl kaum gelungen. Also eine Dankeshalle für den Ruhm des deutschen 
Vaterlandes! Diese Gedenkhalle soll uns mahnen wie es das verehrte 
Stadthaupt gesagt hat, sie soll uns mahnen, daß uns beim Anblick der 
Paladine und Heroen aus großer Zeit wieder klar werde, daß unsere Ein- 
heit nur durch die gewaltige Arbeit des Geistes und des Körpers möglich 
geworden ist, die gewaltige Arbeit Wilhelm des Großen, der in jahre- 
langen Kämpfen dafür gewirkt hat, die gewaltige Geistesarbeit des deutschen 
Volkes, welches in allen seinen Ständen danach trachtete, die Einheit wieder 
zu finden und die gewaltige Arbeit seiner bewährten Söhne auf den Schlacht- 
feldern. Mir will es scheinen, als ob die jetzige Generation der Verpflich- 
tung, durch Arbeit fortzuführen, was uns durch die Arbeit unserer Bäter 
überkommen ist, nicht vollkommen entsprechen wollte. Unser Volk in seinen 
verschiedenen Klassen und Ständen ist für diese Aufgaben unempfänglicher 
geworden. Die großen Fragen, die an uns herantreten, seitdem ein einiges 
deutsches Vaterland und einiges germanisches Volk wieder hergestellt sind, 
werden nicht verstanden. Ich hoffe aber, daß jeder Bürger, der hier ein- 
und ausgeht, durch diesen Anblick zum Nachdenken angeregt werden möge 
und daß in den Lausitzern und auch in den Fremden, die hier hoffentlich 
in großer Zahl sich einfinden werden, das Gefühl für den kategorischen 
Imperativ der Pflicht wieder wach werde. Es ist schön und herrlich, wenn 
ein Volk seine Liebe zu seinen Vätern und zur Krone und deren Träger 
zum Ausdruck bringt. Allein damit ist es nicht getan. Es kann der 
Träger der Krone und seine Organe auf die Dauer ein Land nicht vor- 
wärts bringen, wenn nicht alle Stände desselben helfen. Wir stehen an 
der Schwelle der Entfaltung neuer Kräfte. Unsere Zeit verlangt ein Ge- 
schlecht, das sie versteht. Das neue Jahrhundert wird beherrscht durch die 
Wissenschaft, inbegriffen die Technik, und nicht, wie das vorige, durch die 
Philosophie. Dem müssen wir entsprechen! Groß ist der Deutsche in 
seiner wissenschaftlichen Forschung, groß in seiner Organisierung und Dis- 
ziplinfähigkeit. Die Freiheit für das einzelne Individuum, der Drang 
zur Entwicklung der Individualität, der unserem Stamme innewohnt, ist 
bedingt durch die Unterordnung unter das Ganze zum Wohle des Ganzen. 
Möge deswegen die zukünftige Zeit ein Geschlecht heranwachsen sehen, das 
in voller Erkenntnis dieser Tatsache in freudiger Arbeit Individuen ent-