Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Das Dentsche Reith und seine einzeluen Glieder. (Dezember 2.) 173 
ist es nicht mehr ein Kampf um die Sache, sondern um die Zeit, und 
darum haben meine Freunde von der Freisinnigen Volkspartei und der 
Deutschen Volkspartei einmütig beschlossen, uns hieran nicht zu beteiligen. 
Denn wenn man grundsätzlich 18 bis 19 Monate hindurch verhindern will, 
daß die Mehrheit ihren Willen zum Ausdruck bringt, so kämpft man da- 
mit gegen einen Grundgedanken des Parlamentarismus. (Lebhafte Zu- 
stimmung.) Wenn man die Entscheidung bis zur neuen Wahlperiode 
hinausschieben will, verkürzt man das Recht der jetzigen Volksvertretung. 
Die Obstruktion habe in der Kommission eine sachliche Beratung und da- 
durch die Verschärfung der Gegensätze zwischen Regierung und Agrariern 
und unter den Mehrheitsparteien verhindert. Ohne die Obstruktion sei 
eine Koalition der Opposition von rechts und links gegen den Regierungs- 
entwurf möglich gewesen. Ende Oktober noch hätte der Abg. Sattler an 
einer Erledigung des Tarifes verzweifelt, da hätte die Obstruktion mit den 
Dauerreden eingesetzt, die durch ihre Form erbittern mußten, weil sie alle 
Zuhörer zum Besten zu halten schienen. Ich wenigstens erkannte darin 
ein Mindermaß von Achtung gegen den Parlamentarismus und jeden 
einzelnen Abgeordneten. (Zustimmung rechts und im Zentrum.) So traten 
in den Mehrheitsparteien die Gegensätze über die Höhe der Zölle gegen- 
über dem wachsenden Unwillen über die Form des Kampfes zurück. Es 
gilt jetzt, zu entscheiden, ob das Fünftel des Reichstages, die Sozialdemo- 
kraten und die Freisinnige Vereinigung, mehr zu bedeuten haben soll als 
der ganze Reichstag. Die Sozialdemokraten spiegelten sich derart in ihrer 
eigenen Tapferkeit, daß sie gar nicht merkten, was hier vorging, daß sie 
Dauerreden hielten, während die Mehrheitsparteien die Zeit brauchten, 
um sich zu vereiniggen Ich halte den Antrag Kardorff für illegitim. 
Aber das sage ich: Wenn es so bis in den April oder Mai hineingeht, 
muß der Parlamentarismus an Autorität und Ansehen tief erschüttert 
werden. (Beifall rechts, in der Mitte, bei den Nationalliberalen und in 
der freisinnigen Volkspartei.) Ich gehöre 31 Jahre diesem Reichstage an. 
Wenn wir österreichische Zustände bekommen sollten, würde ich es nicht 
mehr als eine Ehre betrachten, diesem Hause anzugehören. Die freisinnige 
Vereinigung und die Sozialdemokratie trägt die Verantwortung für diesen 
Schritt der Mehrheit. (Lebhafter Beifall rechts, in der Mitte, bei den 
Nationalliberalen und in der freisinnigen Volkspartei.) 
Abg. Bebel (Soz.): Abg. Richter verwerfe die Obstruktion, weil 
er in vielen Wahlkreisen auf die Hilfe des Zentrums und der Rechten 
gegen die Sozialdemokraten angewiesen sei. Abg. Sattler (ul.): Der 
Antrag Kardorff sei ein Akt der Notwehr, denn die Sozialdemokraten 
wollten die Geschäftsordnung nur zur Geschäftshinderung benutzen. 
Am 2. Dezember wird der Antrag Kardorff mit 200 gegen 44 Stimmen 
für zulässig erklärt. — Es kommt hierauf noch zu stürmischen Geschäfts- 
ordnungsdebatten, in denen eine Anzahl Sozialdemokraten durch den takt- 
mäßigen Ruf „Rhabarber! Rhabarber!"“ die Reden der Präsidenten un- 
hörbar zu machen sucht. 
2. Dezember. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schreibt 
über die Räumung Schanghais: 
Zwischen den vier Mächten, die an der provisorischen Besetzung 
Schanghais beteiligt waren, fand ein Meinungsaustausch über die Moda- 
litäten einer gleichzeitigen Zurückziehung der Truppen statt. Zunächst ver- 
ließ das japanische Besatzungskorps am 22. November Schanghai; die 
Engländer werden am 20. Dezember nachfolgen. Im Anschluß daran 
werden die deutschen Truppen abziehen. Der genaue Termin hierfür