Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

202 Bie Serreichisch-ungerische Menarchie. (Juni 30.) 
denn die Regierung ist die Repräsentanz des Staates gegenüber der Außen- 
welt. (Zwischenrufe bei den Tschechisch-Radikalen. Lebhafte Rufe: Ruhel!) 
Wie denken Sie sich nun angesichts der erwähnten Vorfälle die Erfüllung 
dieser Pflicht der verantwortlichen Regierung, wie denken Sie sich die Ge- 
staltung der Beziehungen zu irgend einem Staat, wenn hier im öster- 
reichischen Abgeordnetenhause Schmähungen schlimmster Art gegen fremde 
Staatsoberhäupter — heute gegen das eine, morgen gegen das andere — 
vorgebracht werden? Ich will gar nicht daran erinnern, daß es sich 
gestern um einen seit seinem Regierungsantritte treuen Verbündeten der 
Monarchie handelte. (Zwischenrufe bei den Tschechisch-Radikalen. Lebhafte 
Rufe: Ruhel) Ich würde in jedem gleichen Falle sagen: Die Urheber 
solcher Vorfälle vergehen sich schwer an dem Staate. Sie können aller- 
dings die Politik des Staates nach außen nicht schädigen. Unter diesen 
Verhältnissen ist der Standpunkt der Regierung klar vorgezeichnet: sie 
bringt ihn zur Geltung, indem ich erkläre, die Beantwortung der aus 
diesem Anlasse an mich gerichteten Interpellation abzulehnen. (Lebhafter 
Beifall und Händeklatschen. Lärm und Zwischenrufe bei den Tschechisch- 
Radikalen.) 
Juni. (Cisleithanien.) Verzicht der Tschechen auf die 
Obstruktion. 
Ministerpräsident v. Körber verspricht den Führern der Tschechen 
im Herbst eine Vorlage zur Regelung der böhmischen Sprachenfrage ein- 
zubringen und droht, den böhmischen Landtag nicht zu berufen, wenn die 
Tschechen Ostruktion trieben; infolgedessen stellen die Tschechen alle ihre 
Dringlichkeitsanträge zurück, so daß mehrere Gesetzentwürfe wie die Regelung 
der Sonntagsruhe der Staatsbahnarbeiter und die Fahrkartenstener erledigt 
werden können. 
Ende Juni. Diskussion zwischen Osterreich und Ungarn über 
die Kündigung der Handelsverträge. 
Die „Neue Freie Presse“ teilt am 27. Juni mit, daß der ungarische 
Ministerpräsident am 23. amtlich davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß 
Oesterreich die Handelsverträge kündigen wolle. Nach den Bestimmungen 
des Zoll- und Handelsbündnisses haben die beiden Regierungen über den 
weiteren Vorgang sich ins Einvernehmen zu setzen. Diese Verständigung 
muß binnen sechs Monaten erfolgen. Andernfalls muß die gemeinsame 
Regierung, wenn Oesterreich einen solchen Schritt verlangt, die Verträge 
kündigen. Die „Neue Freie Presse“ sagt: „Nach dem von Oesterreich 
unternommenen Schritt wird Ungarn nunmehr mit voller Offenheit zu er- 
klären haben, ob es die Zollgemeinschaft oder die Zolltrennung von Oester- 
reich wünscht.“ 
Es kommt hierüber zu einer lebhaften Preßdebatte; nach ungarischen 
Blättern frage man sich in Pest, ob es bei den fortgesetzten österreichischen 
Indiskretionen möglich sei, die Ausgleichsverhandlungen überhaupt weiter 
zu führen, und man sage sich, daß diese Art und Weise von Verhand- 
lungen zwischen Regierungen zweier verbündeter Staaten einfach ohne 
Beispiel dastehe. 
30. Juni. Da die Ouotenverhandlungen zu keinem Resultat 
führen, so bestimmt der Kaiser, daß Cisleithanien 66"/% und 
Transleithanien 333/19 zum gemeinsamen Staatshaushalt beizu- 
tragen haben. 
  
 
	        
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