20 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 17. 18.)
Frhr. v. Hammerstein Minister geworden sei, wisse niemand. Der Minister-
präsident hätte mit dem Fall der Kanalvorlage den Abschied nehmen müssen.
Ministerpräsident Graf Bülow: Nach Artikel 45 der Verfassung ernennt
und entläßt der König die Minister. Dazu braucht er nicht die Erlaubnis
des Parlaments und braucht auch nicht diesen oder jenen hervorragenden
Parteipolitiker zuvor zu hören. — Ueber die Zollfrage sagt er: Ich habe
keinen Zweifel darüber gelassen, wie gerne ich bereit bin, der Landwirt-
schaft hilfreiche Hand zu bieten, aber nur bis zu der Grenze, welche durch
die allgemeine Wohlfahrt gezogen ist. Eine extrem agrarische Politik, das
spreche ich offen aus, würde nach der Ansicht der Staatsregierung dem
Wohlstande des Landes sowohl wie dem Staate ebenso schaden wie eine
einseitige Handelspolitik, wie eine rein freihändlerische Politik. Eine solche
einseitige Wirtschaftspolitik kann die Regierung nicht mitmachen, für diese
kann nur das Gesamtinteresse des Landes maßgebend sein. Wir werden
unter die von uns vorgeschlagenen Minimalzölle nicht heruntergehen!
Aber auf übertriebene Forderungen können die verbündeten Regierungen
nicht eingehen. Ein erhöhter, ein verstärkter Zollschutz für die Landwirt-
schaft ist nur soweit erreichbar, als er vereinbar ist mit den Lebens-
bedingungen der beiden anderen großen Zweige unseres wirtschaftlichen
Erwerbslebens. — Wann die Kanalvorlage eingebracht werde, stehe im
Belieben der Krone und sei noch ungewiß, aber sie werde kommen, wie
die Flotte gekommen sei. Abg. v. Zedlitz (fr.k.) verlangt kluge Verkehrs-
politik im Innern, Herabsetzung der Produktionskosten durch Herabsetzung
der Frachtkosten. Dieses würde aber nur möglich sein durch eine wenigstens
anfängliche Verminderung der Einnahmen. Diese Verminderung müsse
durch Mehreinnahmen aus den Zöllen gedeckt werden. Darum zunächst
Zolltarif, dann Kanalvorlage.
17.18. Januar. (Reichstag.) Interpellation über die
Arbeitslosigkeit.
Abg. Zubeil (Soz.) befragt die Regierung, inwiefern sie der wirt-
schaftlichen Krisis, die sich in zahlreichen Arbeiterentlassungen äußere, ent-
gegenwirken wolle. Eine halbe Million Arbeiter sei ohne Arbeit, und mit
Einschluß ihrer Familien würden 2 Millionen von der Arbeitsnot be-
troffen. Er greift die Regierung scharf an, daß sie die Arbeitslosen ver-
nachlässige; es müsse ein Arbeitsministerium geschaffen und eine genaue
Statistik der Arbeitslosen eingerichtet werden. Staatssekretär Graf Posa-
dowsky bezeichnet die Zahlen Zubeils als übertrieben. Die Regierung
suche in ihren Bauten keine Unterbrechung eintreten zu lassen, aber die
wichtigste Rolle in der Fürsorge für die Arbeitslosen falle den Einzelstaaten
und Kommunen zu. Mit der Arbeitslosenversicherung, die häufig verlangt
werde, seien bisher keine guten Erfahrungen gemacht worden. Abg.
Hitze (Z.) betrachtet die Krisis weniger optimistisch als der Vorredner
und hofft auf allmähliche Einführung der Versicherung gegen Arbeits-
losigkeit.
Am folgenden Tage fordert Abg. Gamp (fr.k.) Beschränkung der
Freizügigkeit, die Graf Posadowsky ablehnt.
18. Januar. (Baden.) Ministerpräsident v. Brauer legt
das Programm der neuen Regierung dar (vergl. Jahrg. 1901
S. 116):
Mit dem Ministerwechsel sei eine Systemänderung in der Gesamt-
politik weder beabsichtigt noch eingetreten. Dies erhelle schon aus der