346 Aebersicht der politischen Enkwickeluns des Jahres 1902.
auch gegen den Prinzregenten und die bayerische Regierung, daß
sie dergleichen Üübergriffe duldeten; hier und da wurden sogar diese
und andere angebliche Verbeugungen vor Preußen sowie der Rück-
tritt Landmanns auf das überwiegen der Protestanten in der Um-
gebung des Prinzregenten und im Ministerium zurückgeführt.
Wie in Bayern standen auch in Württemberg Schulfragen
auf der Tagesordnung, die aber noch nicht abgeschlossen sind, und
ebenso ist die Angelegenheit der Steuerreform noch nicht beendet
worden. — Trübe Tage hat Sachsen durchlebt. Wenn der Tod
des beliebten Königs Albert und der Ehekonflikt im kronprinzlichen
Hause die Stimmung niederdrückten, so fehlten auch schwere mate-
rielle Sorgen nicht, da die Eisenbahneinnahmen seit mehreren
Jahren immer geringer geworden sind und die Staatsfinanzen
schwer bedrohen. Vielfach wird die preußische Verkehrspolitik als
Ursache dieser Kalamität angegeben, wogegen freilich die preußische
Regierung entschieden Einspruch erhoben hat. Zeitweilig führten
Finanzfragen sogar zu einem Konflikt zwischen Landtag und Re-
gierung, der dann durch den Rücktritt des Finanzministers aus-
geglichen wurde. — In Baden und Hessen ist die Wahlrechts-
reform lebhaft erörtert worden.
Unter den Parteien, deren Haltung durch den Zolltarif
bestimmt worden ist, sind wesentliche Veränderungen nicht ein-
getreten. Wie in den letzten Jahren ist das Charakteristikum der
Lage, daß das Zentrum die führende Partei des Reichstags ist.
Der Masse der Katholiken ist die Parteileitung nach wie vor
mächtig, insbesondere hat sich ein Gegensatz zwischen Industrie-
arbeitern und Agrariern, auf den namentlich die Linke gehofft
hatte, während des Zollkampfes nur vorübergehend gezeigt. Eine
etwaige Gärung unter der städtischen Bevölkerung wird sich wohl.
durch die Anträge des Zentrums über die Verwendung von Zoll--
einnahmen zu Versicherungszwecken (S. 166) unschwer beschwichtigen
lassen. Unter den Katholiken sind zwar in den letzten Jahren,
namentlich in Bayern, Strömungen aufgetreten, die dogmatisch
und politisch einer liberaleren Richtung als die Zentrumspartei
zuneigen, aber es läßt sich nicht sagen, ob sie an Boden gewinnen
und politischen Einfluß ausüben werden. Die Hierarchie hat