Nebersicht der volitischen Entwichelung des Jahres 1902. 347 
übrigens nicht versäumt, sich streng gegen derartige Reformversuche 
zu erklären. — Ein lange gehegter Wunsch des Zentrums und der 
Reichsregierung ist am Schluß des Jahres mit der Errichtung einer 
theologischen Fakultät in Straßburg erfüllt worden (S. 266). — 
Stärkere Gegensätze als im Zentrum bestehen in der konservativen 
und sozialdemokratischen Partei. In dieser hält der alte Streit 
zwischen Revisionisten und Marxisten die Fraktion in Atem, ist 
aber immer noch bei Kämpfen gegen die bürgerlichen Parteien und 
die Regierung zum Schweigen gebracht worden; in jener hat der 
Zolltarif die strengen Agrarier der Parteileitung entfremdet. Die 
Führer des Bundes der Landwirte agitieren in ihrer Presse und 
in Versammlungen gegen die Unterstützung der Abgeordneten, die 
sich für den Zolltarif entschieden haben; es ist also die Möglich- 
keit vorhanden, daß in den künftigen Reichstagswahlen sich in einer 
agrarischen Gruppe eine neue radikale Klassenpartei ausbildet. 
Für die Kolonialpolitik war das Jahr insofern von 
Wichtigkeit, als der in Berlin abgehaltene Kolonialkongreß den 
Versuch machte, durch ausgiebige Behandlung der kolonialen Pro- 
bleme stärker als es bisher geschehen ist, auf die Offentlichkeit ein- 
zuwirken. Aus der Gesetzgebung ist hervorzuheben die Bestimmung, 
daß den Reichsangehörigen die Ableistung der Wehrpflicht in den 
Schutzgebieten gestattet ist. In den Kolonien sind Ereignisse von 
Bedeutung nicht vor sich gegangen, einige Unruhen, die nieder- 
geworfen werden mußten, waren belanglos. An der wirtschaft- 
lichen Erschließung ist wacker gearbeitet worden. So ist in Kamerun 
eine Handelsexpedition nach dem Tschadsee entsandt; in Südwest- 
afrika und Kiautschou sind Eisenbahnen eröffnet worden, in Togo 
sind vielversprechende Versuche mit dem Baumwollenbau gemacht 
worden und in Ostafrika sind sie in Vorbereitung. In der Süd- 
see hat Deutschland durch den Schiedsspruch in der Samoafrage 
einen moralischen Erfolg davongetragen. 
Das Wirtschaftsjahr war im allgemeinen nicht günstiger 
als das vorige. Die Hoffnung, daß die Depression schnell vor- 
übergehen würde, hat sich nicht erfüllt, für die Industrie hat sich 
weder Absatz= noch Arbeitsgelegenheit verbessert, was auch seinen 
Ausdruck in einer geringen Verminderung der Kohlenförderung