348 Mebersicht der politischen Entwicelunz des Jahres 1902.
findet. Eine schädliche Wirkung auf die Finanzen des Reichs und
der Einzelstaaten ist nicht ausgeblieben und zeigt sich namentlich
in den geringeren Eisenbahneinnahmen. In den Einzekstaaten ist
daher der Ruf nach einer Reichsfinanzreform, die die Einnahmen
des Reiches kräftigt und die Einzelstaaten vor Erhöhung der Ma-
trikularbeiträge bewahrt, immer lauter erhoben worden. — Viel
Aufsehen haben die Abkommen der großen Dampfsschiffahrtsgesell-
schaften mit amerikanischen Unternehmungen erregt (S. 188), über
seine wirtschaftlichen Folgen ist aber noch keine zuverlässige Angabe
bekannt geworden.
Wenn so Deutschland sich die Rüstung zu dem kommenden
Kampf um die Handelsverträge geschaffen hat, so ist in Öster-
reich-Ungarn der Zolltarif noch nicht vorgelegt, aber während
des Jahres vorbereitet worden. Zunächst ist es gelungen, nach
vielen Mühen das Zoll= und Handelsbündnis zwischen beiden
Reichshälften in letzter Stunde wieder zu erneuern. Der Kampf
um den Ausgleich, an dem sich die öffentliche Meinung auf beiden
Seiten lebhaft beteiligte, zog sich fast ein halbes Jahr lang hin,
und wie es scheint ist eine Verständigung zwischen den Ministern
nur durch eine deutliche Willensäußerung des Kaisers herbeigeführt
worden. Es handelt sich nun um die parlamentarische Genehmi-
gung des Ausgleichs, und da werden vermutlich im Reichsrat stür-
mische Debatten bevorstehen, da hier die Parteiverhältnisse so zer-
fahren wie nur je sind. Der Reichsrat hat zwar in der Sommer-
tagung einige wichtige Vorlagen und das Budget erledigt, da die
Tschechen sich durch eine große Bewilligung für Prag und durch
das Versprechen der Regierung, im Herbst einen Sprachenvergleich
für Böhmen vorlegen zu wollen, zum Aufgeben der Obstruktion
bestimmen ließen, aber in der Herbsttagung ist der Konflikt wieder
ausgebrochen. Das Budgetprovisorium konnte nicht rechtzeitig er-
ledigt werden und mußte durch den § 14, der im letzten Jahre
nicht angewendet worden war, bestimmt werden. Der Grund der
Arbeitsunfähigkeit des Reichsrats ist wie früher die Feindschaft
zwischen Deutschen und Tschechen. Die Deutschen verlangen ein
besonderes deutsches Sprachgebiet in Böhmen und Mähren sowie
einen Schutz deutscher Sprachinseln gegen Majorisierung durch um-